Der Gesetzgeber ist angesichts der verfassungsrechtlichen Fundierung des Strafprozesses nicht frei, beliebige Normen zu erlassen, welche die Möglichkeiten der Realisierung des Strafanspruchs nachhaltig beeinträchtigen, z. B. im Bereich der Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmeverbote. Beschränkungen bedürfen stets einer Legitimation, die vor dem Rechtsstaatsprinzip Bestand hat 7. Dies gilt auch für die Anwendung und Auslegung des Strafverfahrensrechts, z. B. die Begründung von Beweisverwertungsverboten 8. Erst recht muss eine „Verwirkung“ des Strafanspruchs durch Fehlverhalten einzelner Strafverfolgungspersonen abgelehnt werden, denn der Begriff „Strafanspruch“ darf nicht dahin missverstanden werden, dass es sich wie im Zivilrecht um eine verwirkbare günstige Rechtsposition handle; vielmehr geht es um eine Funktion des Staates, nämlich um seine Verpflichtung zum Rechtsgüterschutz durch die Verfolgung strafbarer Handlungen 9.
3Im Schwerpunkt ist das deutsche Strafverfahrensrecht in der Strafprozessordnung (StPO) niedergelegt. Demgegenüber enthält das Strafgesetzbuch (StGB) vornehmlich materielles Strafrecht, aber nicht ausschließlich. Vereinzelt finden sich auch im StGB strafverfahrensrechtliche Regelungen. Dies gilt z. B. auch für die Verjährung, welche nicht die Frage berührt, dass kriminelles Unrecht vorlag, sondern nur, ob dem Täter Jahre später noch „der Prozess gemacht werden sollte“ 10. Gleiches gilt für die Bestimmungen des StGB über den Strafantrag 11. Sie lassen die Strafbarkeit als solche, d. h. das sozialethische Unwerturteil des Gesetzgebers über eine von ihm pönalisierte Handlungsweise, unberührt. Das Antragserfordernis ist lediglich Voraussetzung für die Verfolgung eines strafbaren Verhaltens, mithin dem Strafverfahrensrecht zuzurechnen.
Da also § 78b StGB trotz seines Standorts im StGB eine strafprozessuale Regelung darstellt, gilt hier das Rückwirkungsverbot des materiellen Strafrechts nicht. A. muss also noch mit der Verfolgung seiner letzten Taten rechnen. Auch der umgekehrte Fall ist denkbar, wenn auch selten: ausnahmsweise kann auch in der StPO einmal eine Vorschrift des materiellen Strafrechts vorhanden sein 12.
Die Unterscheidung von materiellem Strafrecht und Strafverfahrensrecht ist auch in anderen Bereichen von Bedeutung. Die sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ergebenden methodischen Besonderheiten des materiellen Strafrechts (Analogieverbot, strenger Bestimmtheitsgrundsatz, Auslegungsgrenzen) gelten im Strafverfahrensrecht nicht, das deshalb bei weitem nicht so begrifflich geprägt ist wie das materielle Strafrecht. Ferner wirkt sich die Unterscheidung im Revisionsrecht aus, wo unterschiedliche Regeln für die Behandlung materiellrechtlicher Mängel (Sachrügen) und des formellen Rechts gelten (Verfahrensrügen) 13. Schließlich findet auf die Normen des materiellen Rechts der sog. Strengbeweis in Verbindung mit dem Grundsatz in dubio pro reo Anwendung, während für verfahrensrechtliche Vorschriften der Freibeweis genügt 14.
3aA. ist wegen Serienbetruges zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt worden. Er will sich nunmehr eine neue Existenz aufbauen. Zuvor möchte er sich aber informieren, welche Erkenntnisse bei der Polizei über ihn vorliegen, weil er sich durch das Strafverfahren als „gebrandmarkt“ ansieht. Ihm ist aufgefallen, dass bei der Polizei nicht nur die später an die Staatsanwaltschaft übermittelten Ermittlungsakten, sondern auch polizeiliche Kriminalakten mit der Überschrift „E-Akte“ über ihn angelegt wurden, in welche die Beamten jeweils Kopien und Durchschriften aller Protokolle, Vermerke und sonstiger Schriftstücke aus dem Ermittlungsverfahren eingelegt haben. A. klagt nach erfolglosem Vorverfahren vor dem Verwaltungsgericht auf Auskunfterteilung über den Inhalt der Kriminalakten, welche die Polizei über ihn führt, und beruft sich dabei auf eine Vorschrift des einschlägigen Polizeigesetzes.
3bDie Klage des A. wäre vor dem Verwaltungsgericht nach § 40 VwGO zulässig, wenn es sich bei der Führung der Kriminalakten der Polizei nicht um eine Maßnahme der Strafrechtspflege handeln würde. Das Strafverfahrensrecht lässt sich näher unterscheiden in das Strafverfahrensrecht im engeren Sinne und die Strafrechtspflege i. S. v. § 23 Abs. 1 EGGVG. Von Strafverfahrensrecht i. e. S.spricht man, wenn es um die Verfolgung des Strafanspruchs im einzelnen Falle geht, d. h. aufgrund eines zureichenden Tatverdachts (sog. Anfangsverdachts) 15, der sich jeweils auf ein bestimmtes Geschehnis beziehen muss, von den Strafverfolgungsorganen ein Verfahren betrieben wird. Der Begriff der Strafrechtspflegeist umfassender. Hierzu gehört nicht nur die Durchführung von Straf- und Bußgeldverfahren sowie die Vollstreckung der Entscheidungen der Strafgerichte, sondern auch die damit in innerem Zusammenhang stehenden Maßnahmen der Justizbehörden zur Ermöglichung der geordneten Durchführung der Strafverfolgung und Strafvollstreckungstätigkeit, einschließlich der Tätigkeiten, die geeignet sein können, die Entschließung erst zu ermöglichen, ob überhaupt die Strafverfolgung rechtfertigende Sachverhalte gegeben sind und ob ein staatlicher Strafanspruch verfolgt werden soll 16. Als anerkannte Beispiele gelten dafür die Führung des Bundeszentralregisters über Vorstrafen, des Erziehungsregisters jugendlicher Straftäter, Verwaltung von Akten, Erstellung der Schöffenlisten usw. 17. Die StPO besteht ganz überwiegend aus Strafverfahrensrecht i. e. S., enthält aber vereinzelt auch Vorschriften, die der Strafrechtspflege zuzurechnen sind, wie z. B. die molekulargenetische Untersuchung nach § 81 g 18und der § 484, der die Speicherung und Verarbeitung von Daten für Zwecke künftiger Strafverfahren regelt. Ebenso verhält es sich mit dem zentralen staatsanwaltlichen Verfahrensregister nach § 492, in dem bundesweit alle eingeleiteten Strafverfahren erfasst werden. Entgegen der bisher h. M. gehören erkennungsdienstliche Maßnahmen nach § 81b 2. Alt. als Justizverwaltungsakte ebenfalls zur Strafrechtspflege 19. Die Polizei wird hier angesichts der anerkannt funktionellen Betrachtungsweise 20als „Justizbehörde“ tätig. Die vom BVerwG vorgenommene Gleichsetzung von Strafverfolgung i. e. S. und Strafrechtspflege i. S. v. § 23 EGGVG 21ist nicht haltbar. Gegen sie spricht schon der gesetzliche Terminus Strafrechts„pflege“, der vom Wortsinn her besagt, dass losgelöst vom Einzelfall Aufgaben erfüllt werden, die der staatlichen Strafverfolgungsfunktion insgesamt zu dienen bestimmt sind. Bei Gleichsetzung der Begriffe ließen sich unstrittige Bereiche – wie z. B. die Führung des Bundeszentralregisters – nicht mehr sachgerecht einordnen. Schließlich bliebe für einen Rechtsschutz nach § 23 EGGVG kaum noch ein Anwendungsbereich übrig.
3cDer Begriff der vorbeugenden Verbrechensbekämpfungist doppeldeutig 22. Einerseits zählen dazu Maßnahmen im Vorfeld der Strafverfolgung i. e. S., welche diese vorbereiten und in innerem Zusammenhang mit der Ermöglichung der Strafverfolgungsaufgabe stehen („zu Zwecken künftiger Strafverfahren“ 23). Diese sind Teil der Strafrechtspflege und fallen somit in die vom Bund beanspruchte Gesetzgebungskompetenz für das gerichtliche Verfahren nach Art. 74 Nr. 1 GG 24. Dies gilt auf jeden Fall für Informationsbeschaffung und andere Maßnahmen im Vorfeld des Anfangsverdachts, welche auf die Einleitung eines Ermittlungsverfahren abzielen, denn die StPO lässt insoweit keinen gesetzgeberischen Freiraum, sondern enthält im Umkehrschluss aus §§ 152 Abs. 2, 160, 161, 163 die Aussage, dass ohne zureichenden Verdacht Ermittlungen nicht zulässig sind 25. Dies kann auch gar nicht anders sein, weil es ansonsten dazu kommen könnte, dass aufgrund landesrechtlicher Bestimmungen umfangreichere und schwerwiegendere Maßnahmen zulässig wären, solange noch kein konkreter Verdacht besteht, als nach Überschreitung der Schwelle des Anfangsverdachts. Andererseits versteht man unter „vorbeugender Verbrechensbekämpfung“ auch präventive Maßnahmen, die der Verhinderung von Straftaten dienen, und die darauf bezogene Gefahrenvorsorge im Vorfeld der konkreten Gefahr (z. B. polizeilicher Streifendienst, Drogenaufklärungsprogramme 26). Nur insoweit greift die Gesetzgebungskompetenz der Länder für das Polizeirecht ein. Beide Aspekte der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten sind daher streng zu trennen. Die neueren Polizeigesetze der Länder werden dem z. T. schwerlich gerecht und müssen – soweit möglich – verfassungskonform ausgelegt werden.
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