Interessant ist auch die Einordnung von Geschlechtsumwandlungen oder Geschlechtsangleichungen. Geschlechtsangleichung meint dabei die Anpassung der sichtbaren Genitalien an das chromosomale Geschlecht, meist noch beim Kleinkind. Das chromosomale Geschlecht gilt dabei als das ›tatsächliche‹ Geschlecht und die Angleichung soll die kulturell vorgegebene binäre Eindeutigkeit (Mann oder Frau und nichts dazwischen) sicherstellen. An Bedeutung gewonnen hat die Praxis der Geschlechtsumwandlung, die den Körper an eine gegenläufige Geschlechtsidentität als Persönlichkeitsmerkmal anpassen soll. Jemand fühlt sich z. B. als Frau, hat aber den Körper eines Mannes und lässt diesen durch hormonelle und chirurgische Eingriffe an einen weiblichen Körper annähern. 60 Je nach soziokultureller bzw. moralischer Bewertung kann die Wahrnehmung einer Diskrepanz von Geschlechtsidentität und biologischem Körper auch dem Feld der körperdysmorphen Störungen zugeordnet werden; andererseits könnte eine solche Zuordnung dann als Pathologisierung bzw. Psychiatrisierung sexueller Abweichung missbilligt werden.
Quasi das Gegenteil von Enhancement ist das gezielte Schädigen des menschlichen Körpers im Zuge von Hinrichtungen, Folter oder Körperstrafen (z. B. die Amputation von Gliedmaßen). Vermutlich fanden und finden solche Praktiken unter Mitwirkung (oder zumindest Konsultation) von Ärztinnen und Psychologen statt, zur Sicherstellung und Steigerung ihrer Effektivität oder zur Kontrolle ihrer Auswirkungen.
Ein weiterer Sonderbereich sind Veränderungen des Körpers aus religiösen oder anderen kulturellen Gründen wie z. B. die Beschneidung von Genitalien im Auftrag einer Gottheit oder – seltener – anderweitige Beschneidungen, Tätowierungen o. ä. im Rahmen von Initiationsriten. 61 Dieser Bereich soll hier nicht weiter vertieft werden, zumal solche Eingriffe meist von nichtmedizinischem Personal durchgeführt werden 62 . Inwieweit Ärztinnen und Ärzte sich an Beschneidungen beteiligen dürfen, wird immer wieder diskutiert, vor dem Hintergrund eines schwer entwirrbaren Geflechts aus medizinischen, politischen, apologetischen und religionskritischen Argumenten. 63 Ein Lösungsweg wäre die Konstruktion einer medizinischen Indikation zur Maskierung des religiös-sexualmoralisch-kulturell-politischen Hintergrunds. So kann man hygienische Gründe anführen und versuchen, dadurch Un- oder Andersgläubige zu überzeugen oder zumindest zu beruhigen. Auf jeden Fall kommt die Medizin spätestens dann ins Spiel, wenn derartige Eingriffe zu Komplikationen führen, die ärztlich behandelt werden müssen.
Möchte man diese Bereiche in den Geltungsbereich der Biomedizin mit einbeziehen, kann man Humanmedizin definieren als eine Profession, die sich mit den Funktionen des menschlichen Organismus befasst und Eingriffe in diesen vornimmt, in der Regel mit dem Ziel einer Beseitigung oder Verhinderung von Funktionsstörungen bzw. einer Anpassung an soziokulturelle Erfordernisse. Die Medizin zur organisierten Krankenbehandlung, Prävention und Salutogenese deckt davon nur einen Teilbereich ab, wenn auch den bedeutendsten. Der biomedizinische Fokus lässt sich dann wiederum erweitern durch Berücksichtigung der sozialen Umwelt des medizinischen Handelns, wodurch man zur Sozialmedizin und den Gesundheitswissenschaften gelangt.
1Zur Einführung z. B. Bauer in Morel 1995: 8–13.
2Mathe ordnet sie dort z. B. ein (Mathe 2005: 30); für Akteurtheorien besteht die Gesellschaft aus Menschen, für die Systemtheorie sind Menschen ihre Umwelt.
3Nach Luhmann gibt es aufgrund der umfassenden Kommunikationsmöglichkeiten durch die Massenmedien im Wesentlichen nur noch eine Gesellschaft, die er als »das umfassende Sozialsystem« (Luhmann 1997: 145) bestimmt. Im Alltagsgebrauch wird Gesellschaft oft auf einzelne Staaten bezogen: Die deutsche, schweizerische oder österreichische Gesellschaft.
4Manchmal auch als Strukturwissenschaften eingeordnet – in der Regel Mathematik, Logik (als Teil der Philosophie), Informatik und allgemeine Systemtheorie.
5Eckart 2013: 147, 222–223.
6Im alternativmedizinischen Umfeld wiederum abwertend gemeint.
7Vgl. Parsons 1952: 432.
8Vgl. Eckart 2013: 217 ff.; Hehlmann et al. 2018: 19 ff.
9Saake/Vogd 2008 und Vogd 2011.
10Luhmann 1990/2009: 176–188; vgl. Vogd 2011: 71–76.
11Die Systemtheorie spricht von Kontingenz: Etwas muss nicht zwangsläufig so sein, wie es ist, es hätte auch anders kommen können. Damit wird keine Beliebigkeit behauptet, die Alternativen können bei entsprechenden Umweltbedingungen ähnlich sein. Ein Beispiel aus der Biologie ist die Entwicklung des Auges, die mehrmals im Tierreich unabhängig voneinander erfolgte. Gegenkonzepte sind Schicksal und Bestimmung oder strikte kausale Determinationen (aus A folgt zwangsläufig B).
12Z. B. bei Mathe 2005: 30 ff.
13Außer Acht gelassen werden hier Pflanzen, die als biologische Organismen ebenfalls krank werden und medizinisch behandelt werden können.
14Hier sei betont, dass es hierzu in den vielen Theologien unterschiedliche Positionen gibt. Eine hervorgehobene Stellung des Menschen entspricht z. B. dem konservativen christlichen oder muslimischen Mainstream, der Status der Tiere wurde aber seit der Antike immer wieder diskutiert.
15Vgl. Sommer 2008: 29–32.
16Sorgfältig ausgearbeitet z. B. bei Singer 1994 (1979).
17Vgl. Eckart 2013: 162–163; Baxby 1996. Entscheidend ist hier nicht der Menschenversuch, der bis heute üblich ist, sondern die mangelnde Aufklärung und Freiwilligkeit der Probanden. Ob Jenner den Jungen oder seine Eltern gefragt hatte, ist nicht bekannt; außerdem wurden – und werden – Erfolge eher berichtet als Fehlschläge.
18Für einen Überblick die Homepage des National Center for Biotechnology Information: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/?term=human+microbiome+project.
19Diagnosebezogene Fallgruppe,
Kap. 4.8.
20Vgl. Parsons 1952: 431.
21Im Einzelfall lassen sich evidente Behandlungen diesen Prinzipien zuweisen; die Schädlichkeit liegt in ihrer pauschalen Anwendung.
22»It may also be noted, that scientific advance beyond the level to which the Greeks brought it is, in the medical field, a recent phenomenon, as a broad cultural stream not much more than a century old.« (Parsons 1951: 432).
23Präambel der Verfassung der WHO, wie sie von der konstituierenden Sitzung der WHO im Sommer 1946 beschlossen wurde und am 07.04.1948 in Kraft trat. Abrufbar unter: https://www.who.int/about/who-we-are/constitution(übersetzt: Gesundheit ist der Status eines vollständigen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein die Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen).
24Vgl. Hurrelmann 2013: 117–119; Hehlmann et al. 2018: 53–60; Eibach in Klein et al. 2011: 125.
25Ausführlich bei Berghaus 2011: 52–53, 98–103.
26Pelikan 2009: 31–33.
27Hehlmann et al. 2018.
28Eine Ausnahme ist Vogds »Soziologie der organisierten Krankenbehandlung« (2011).
29Die zentrale Operation in der Systemtheorie, die Luhmann von George Spencer Brown übernommen hat, vgl. Luhmann 1991: 23 oder Luhmann 1996: 24 ff.
30Abweichendes Verhalten – Kriminalität oder anderweitige Normabweichungen.
31Wann wird eine Abweichung vom Normalen zur Behinderung? Eine umfassende soziologische Einführung bietet Kastl 2017.
32Vgl. Siegrist 2005: 25–26; Mathe 2005: 100.
33Die entsprechende Konflikttabelle kann man als Übung mit eigenen Beispielen selbst erstellen.
34Vgl. Kögel 2016: 82–86.
35Ganz im Sinne von Max Webers klassischer Definition der Soziologie als »eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will« (Weber 1921: 19).
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