Dom denkt nach und nickt. Das leuchtet ihm ein.
Bill schaut wieder die Klasse an: »Hört zu, das ist sehr wichtig. Wir ersetzen das Wort ›leben‹ mit ›handeln‹. Jetzt haben wir also: Schauspielen heißt handeln – wirklich tun – wahrhaftig unter imaginären Gegebenheiten.
Dieses Prinzip – die Realität des Handelns – ist das Fundament aller Schauspielkunst und der Grundpfeiler von Sanford Meisners ganzer Arbeit. 4Der Fokus unserer Arbeit wird also sein zu lernen, wirklich zu handeln oder etwas wirklich zu tun . Das ist unser erster Schritt auf dem Weg zur Schauspielkunst.«
Ein spindeldürrer Mann mit blonden Locken und einer hämischen Stimme ruft dazwischen. Es ist Kenny.
»Aber woher wissen wir, wann wir wirklich etwas tun statt … Du weißt schon.«
Bill legt den Kopf schief: »Statt etwas nicht zu tun? Statt etwas vorzutäuschen?«
»Ja.«
»Sag mal, wie viele Buchstaben haben dein Vor- und Nachname zusammen?«
»Was?«
»Ich habe gefragt, wie viele Buchstaben dein Name hat.«
Kenny sagt: »Weiß ich nicht.«
»Zähle sie für mich.«
Kenny sieht geflissentlich über Bill hinweg. Dann runzelt er die Stirn und fängt an, sich zu konzentrieren. Er formt die Buchstaben seines Namens mit dem Mund, während er mit den Fingern zählt. Schließlich sagt er: »Elf.«
Bill nickt: »Also hast du die Buchstaben wirklich gezählt? Oder hast du vorgetäuscht , sie zu zählen?«
Kenny überlegt: »Ich … Oh. Alles klar. Ich verstehe. Das ist der Unterschied.«
»Genau«, sagt Bill, »das ist der Unterschied. Jetzt möchte ich, dass ihr alle etwas versucht. Versucht euch an den Tag vor genau zwei Wochen zu erinnern. Ich möchte, dass ihr euch an diesen Tag erinnert … und erinnert euch an alles, was ihr gegessen habt.«
Sofort schweigt die Klasse. Nach einem kurzen Moment fragt Bill: »Wie viele von euch können sich erinnern?«
Ein paar Schüler heben die Hand. Die meisten jedoch nicht.
»Dann lasst mich Folgendes fragen: Auch wenn ihr euch nicht erinnern könnt, habt ihr wirklich versucht, euch zu erinnern? Oder habt ihr nur so getan?«
Alle murmeln: »Versucht. Wirklich versucht.«
»Dann ist es das, was wir wollen. Das ist die Realität des Handelns. Jetzt wollen wir etwas anderes hinzufügen. Von dort, wo ihr gerade sitzt, möchte ich, dass ihr alle einen Moment lang zuhört. Aber ihr müsst wirklich zuhören, denn der Klang, den ihr hören sollt, ist sehr weit weg. Ich möchte, dass ihr auf den Chor der Engel hört, die über euren Köpfen singen. Versucht zu hören, welches Lied sie singen.«
Wieder gespanntes Schweigen in der Klasse. Einige Augenblicke später fragt Bill: »Wer hat die Engel gehört?«
Keine Hand geht nach oben, also sagt Bill: »Das ist gut. Denn wenn ihr das getan hättet, müsste ich euch einige ziemlich starke Medikamente verordnen.«
Die Klasse lacht.
»Aber worauf ich hinauswill: Ist es wichtig, ob ihr sie gehört habt oder nicht?«
Ein schlaksiger Afro-Amerikaner mit Schmollmund meint: »Nein. Es ist nur wichtig, dass wir tatsächlich versucht haben zuzuhören.«
Bill nickt: »Genau. Wie heißt du?«
»Quid.«
»Quid, sehr gut. Würdest du mir einen Gefallen tun?«
Quid nickt.
»Es gab gestern Abend einen Unfall hier im Studio. Sehr bedauerlich. Ich glaube, da sind noch ein paar Blutflecken auf dem Bettlaken da drüben. Schau mal nach, ob du sie siehst.«
Quid blinzelt nervös bei dieser merkwürdigen Aufforderung, steht aber leichtfüßig von seinem Platz auf und geht zu dem Bett, auf das Bill gezeigt hat. Er untersucht schnell das Bettlaken und findet nichts. Dann schaut er genauer und sucht das Laken Zentimeter für Zentimeter ab. Immer noch nichts. Während wir zuschauen, zieht er das Bettgestell von der Wand und untersucht das Laken aus einem anderen Blickwinkel. Nichts. Dann zieht er das Laken von der Matratze ab und dreht es um, um die andere Seite zu prüfen; wieder sucht er den Stoff Zentimeter für Zentimeter ab. Er ist mittendrin in seiner Suche, als Bill schließlich fragt: »Findest du nichts?«
Quid schreckt aus seiner Konzentration hoch: »Was? Nein.«
Bill wendet sich wieder an die Klasse: »Natürlich nicht, denn die Blutflecken sind imaginär. Aber ist das wirklich wichtig?« Alle schütteln den Kopf: »Warum nicht?«
Adam hat die stämmige Figur eines professionellen Holzfällers. Ich habe sogar jemanden in Bills Büro sagen hören, dass er im College Football gespielt hat. Er scheint skandinavischer Herkunft zu sein, doch sein Nachname ist italienisch. In Wirklichkeit ist er Sizilianer. »Es ist nicht wichtig, dass da Blutflecken sind«, sagt Adam. »Sondern, dass er wirklich nach ihnen gesucht hat.«
»Das ist richtig«, sagt Bill. »Ich sage es noch einmal! Die Realität des Tuns ist die einzige und wichtigste Regel für wahrhaftiges Handeln. Es ist der Schlüssel, der es euch ermöglicht, die Tür zur imaginären Welt zu öffnen, sie zu betreten und dort wahrhaftig zu leben.
Wir wollen noch einmal auf die vorhin erwähnte Hamlet -Inszenierung zurückkommen. Kennt jeder das Stück?«
Ja, erklingt es unisono.
»Gut. Schauspieler sollten Hamlet kennen. Also sagt mir, worum geht es in dem Stück?«
Ein Afro-Amerikaner mit der Statur eines Zero Mostel, einem bleistiftdünnen Schnurrbart und einem sanften Südstaaten-Tonfall meldet sich.
Er heißt Reg. Er sagt: »Es geht um Leidenschaft, Schmerz und Rachsucht.«
Bill zuckt mit den Schultern: »Du hast mir eine Liste von Emotionen gegeben, aber ich möchte, dass du damit sehr vorsichtig bist. Viele Leute denken, dass Emotionen – Gefühle darstellen – die Eckpfeiler guter Schauspielkunst seien. Robert (Bobby) Lewis pflegte zu sagen: ›Wenn Schauspielen Weinen bedeutete, wäre meine Tante Tessie eine großartige Schauspielerin.‹«
Die Klasse lacht.
»Versuchen wir es noch einmal. Ihr kennt die Geschichte von Hamlet . Also lasst uns das Stück wie Schauspieler betrachten. Da gibt es diesen Prinzen in Dänemark. Was tut er in dem Stück?«
Kenny ruft: »Er sieht den Geist seines Vaters und hört das Geheimnis, das der Geist ihm mitteilt.«
»Richtig«, sagt Bill. »Was noch?«
Amber: »Er gibt vor, wahnsinnig zu sein.«
Kenny: »Er trennt sich von Ophelia.«
Reg: »Er stellt die Schauspieler ein, schreibt eigens ein Stück für sie und schult sie, es genau so zu spielen, wie er es möchte.«
»Sehr gut«, sagt Bill. »Weiter.«
Mimi, Fernsehstar einer Sitcom aus den Achtzigern: »Er denkt über Selbstmord nach. ›Sein oder Nichtsein!‹«
Trevor: »Er tötet Polonius.«
Kenny: »Oh! Und er legt die beiden anderen Typen rein, Rosenkranz und Güldenstern.«
»Das ist richtig«, sagt Bill. »Und so weiter und so fort. Also, Hamlet tut all diese Dinge. Deshalb muss der Schauspieler, der den Hamlet spielt, auch diese Dinge tun. Er muss wirklich unter den imaginären Gegebenheiten des Stücks handeln. Und wenn der Schauspieler all diese Dinge tut – wirklich handelt –, was passiert dann?«
»Er wird zu Hamlet«, sagt Dom leise.
»Noch nicht«, sagt Bill. »Aber es ist ein verdammt guter Anfang.«
***
Das Gespräch geht weiter. Sehr bald wird allen klar, dass, wenn Schauspielen mit der Realität des Handelns beginnt, sie alle ihr Leben lang bereits gehandelt haben.
Sie haben sich wirklich jeden Morgen ihre Schuhe zugebunden. Sie haben sich wirklich eine Tasse Kaffee gemacht. Wirklich ihre Rechnungen bezahlt. Wirklich Sex gehabt. Wirklich Filme angeschaut. Sich wirklich gefragt, wohin sie ihr Leben führen wird. Wirklich gearbeitet, um zu überleben. Wirklich das Bett gemacht, Wäsche gewaschen, und sie sind wirklich mit dem Hund spazieren gegangen.
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