Kate hob erstaunt die Brauen. Sie fühlte sich geschmeichelt, dass Walcott ihr etwas aus den Strategiesitzungen der Führungsetage erzählte, noch dazu eine unbestätigte Nachricht diesen Ausmaßes. Als Kates Vorgesetzte in der Wilshire Division hatte Carolina Walcott nie ein Blatt vor den Mund genommen; sie war schonungslos offen gewesen, manchmal derb und hatte ihre Detectives oft mehr als schroff behandelt. Aber abgesehen von einigen herablassenden allgemeinen Äußerungen hatte sie ihre Ansichten über die Politik des LAPD für sich behalten, und somit bedeutete diese Enthüllung, dass sie Kate wichtige, vertrauliche Informationen offenbarte. »Der neue Chief ist ein mutiger Mann«, erlaubte Kate sich zu sagen.
Walcott grinste. »Mutig? So kann man es auch nennen. Wie einfach ist es, Einsatzkräfte zu verlagern, wenn man fünfunddreißigtausend hat, um eine Stadt wie New York abzudecken? Er wird früh genug herausfinden, wie es ist, weniger als zehntausend über die fünfhundert Quadratmeilen von L.A. umzuverteilen.« Walcott biss ein Stück von ihrem Hafertaler ab, verspeiste es genüsslich und trank einen Schluck Kaffee hinterher.
Was will sie von mir? In Kates Kopf überschlugen sich die Möglichkeiten. Irgendeine gravierende neue Entwicklung in einem meiner alten Fälle? Nein, dann hätte sie mich einfach angerufen. Ein Einsatz? Unmöglich .
Walcott fügte hinzu: »Warten Sie nur, bis die Leute, die glauben, sie verdienten besseren Schutz, herausfinden, dass ein beträchtlicher Teil der Einsatzkräfte für Menschen abgezogen wurde, die sie als weit unter sich betrachten.«
Noch während Kate über diese Bemerkung lächelte, begriff sie, dass Walcotts ungewohnte Freimütigkeit, was die internen Strategieüberlegungen des LAPD anging, auch Kates veränderten Status widerspiegelte – sie war draußen, sie war keine Insiderin mehr, sie war vom Strom der Gerüchte abgeschnitten. Nichtsdestotrotz freute sie sich, dass Walcott ihr diese Information anvertraut hatte. »Glauben Sie, dass das passieren wird?«
»Zweifelsohne. Er ist, wie Sie sagten, ein mutiger Mann. Und anders als gewisse Menschen, die wir kennen, hat er kein Interesse daran, für das Bürgermeisteramt zu kandidieren.«
Amüsiert rief Kate sich die Ambitionen eines früheren Polizeichefs in Erinnerung. Sie nahm ihre Kaffeetasse und lehnte sich in ihrem Sessel zurück; sie genoss das reiche Aroma und die heiße herbe Note des Kaffees, wünschte sich aber dennoch, er wäre mit einem Schuss Scotch angereichert. Sie erwiderte nichts auf Walcotts letzte Bemerkung; sie hatte beschlossen, die Konversation von sich aus nicht fortzuführen. Sie wollte erfahren, was Walcott mit diesem Besuch bezweckte.
Walcott trank einen weiteren Schluck Kaffee. Und fragte dann: »Haben Sie in letzter Zeit von Cameron gehört?«
Eine weitere höfliche Nachfrage. Aber diese traf einen wunden Punkt. Kate wollte Walcott jedoch nicht wissen lassen, wie abgeschnitten sie sich von Joe Cameron fühlte, wie sehr ihr früherer Partner sie durch seine mangelnde Rückmeldung verletzt hatte, und so antwortete sie leichthin: »In letzter Zeit nicht.« Und fügte dann hinzu: »Aber er hat sich, abgesehen von seinem Urlaub, auch krankschreiben lassen.« Das wusste ihr Gegenüber natürlich längst.
Walcott nickte. Ihr Blick war abwägend auf Kate geheftet. »Hat er erwähnt, dass ich ihn angewiesen habe, sich arbeitsunfähig zu melden?«
»Nein, das hat er nicht erwähnt.« Typisch Cameron.
»Gestresst bis zum Anschlag. Wir Cops geben nie zu, dass wir völlig ausgebrannt und am Ende sind. Aber er hat keine Einwände erhoben. Ich vermute, Sie wissen, dass er der leitende Ermittler im Fall Carter war?«
»Und ob. Er hat von nichts anderem geredet. Der Fall hat ihm keine Ruhe gelassen.«
Alle Detectives der Mordkommission hatten Fälle, die ihnen persönlich sehr nahegingen. Kate hatte während ihrer Laufbahn mehrere davon gehabt. Die fünfzehnjährige Tamara Carter war Camerons erster Fall ohne Kate gewesen, eine Vergewaltigung mit Todesfolge, und der Anblick des brutal misshandelten Opfers hatte einen Zorn in ihm entfacht, der unauslöschlich schien. Als es keine neuen Spuren mehr gab und der weitere Fortgang von den Ergebnissen abhing, die das Labor des FBI erbringen würde, hatte Cameron erneut die Familie, die Freundinnen, Freunde und Bekannten von Tamara Carter befragt und wie besessen über jedem einzelnen Detail in den Ermittlungsakten gebrütet.
»Wie oft hören Sie gewöhnlich von ihm?«
»Anfangs jede Woche«, erwiderte Kate. »Manchmal öfter. Aber jetzt hat er sich schon seit drei Wochen nicht gemeldet. Wir – wir hatten ein ziemlich enges Verhältnis, wissen Sie.«
Wieder lächelte Walcott, diesmal spontan und entwaffnend. »Was Sie nicht sagen. Zu eng. Er war wie ein übermütiges Fohlen, als er zu uns kam, und er hat meine erfahrenste Ermittlerin ebenfalls in ein Fohlen verwandelt.«
Kate musste lächeln. Walcott hatte ja keine Ahnung.
»Ich bin sicher, es gibt vieles, von dem ich nichts weiß«, fügte Walcott hinzu.
Kate schüttelte den Kopf. Seit wann konnte diese Frau Gedanken lesen?
»Er hat Ihnen gutgetan, Kate, also habe ich Sie beide gewähren lassen, wann immer es möglich war. Sie haben sich gegenseitig gutgetan.«
»Das stimmt. Joe war der beste Partner, den ich je hatte.«
»Soweit ich weiß, war die Konkurrenz nicht sehr groß.«
Nun ja … Kate zuckte die Achseln. Was gab es dazu zu sagen? Ed Taylor hatte einer früheren Epoche angehört, und mit seinem minimalistischen Ansatz in Sachen Mordermittlung würde er in keinem modernen Ermittlungsteam auch nur einen Tag bestehen. Egal, über die Toten nichts als Gutes. Es war inzwischen schon fünf Jahre her – ein Herzinfarkt in den frühen Morgenstunden – er war zwischen den Avocadobäumen auf seinem Grundstück in Fallbrook einfach zusammengebrochen. Marie Taylor hatte Kate angerufen und es ihr erzählt, und sie hatte einen unerwartet melancholischen Samstag verbracht; sie war zu seiner Beerdigung gegangen und hatte Schulter an Schulter mit einigen anderen Kolleginnen und Kollegen am Grab gestanden und war bei den auf sie einstürmenden Erinnerungen an die gemeinsamen Jahre und die Fälle, die sie zusammen bearbeitet hatten, überraschend nostalgisch geworden. Was ihre nächste Partnerin anbelangte, Torrie Holden – nach ihrem Verhalten im Anschluss an eine misslungene Verhaftung, bei der Kate eine Kugel in die Schulter abbekam, und nach Torries Vertuschung einer Pflichtverletzung beim Vollzug einer Durchsuchung, die einen Mörder beinahe hätte davonkommen lassen, hatte Lieutenant Mike Bodwin dafür gesorgt, dass sie Kate nicht mehr unter die Augen kam, ehe Kate ihr womöglich den Hals umdrehte. Kurz darauf hatte Torrie das Morddezernat in Hollenbeck verlassen; sie war nach West Valley versetzt worden, wo sie als Streifenpolizistin vermutlich weniger Unheil anrichtete.
»Sie hatten einen guten Partner verdient, Kate, und Sie haben Joe eine Menge beigebracht. Sie haben ihn die Professionalität und die Gründlichkeit gelehrt, die ihm gefehlt haben. Es ist fast drei Wochen her, sagen Sie? Irgendeine Ahnung, was es mit diesem Schweigen auf sich hat?«
Kate schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt, bin ich ziemlich sauer auf ihn.« Insbesondere in Anbetracht der Last, die zurzeit auf ihren Schultern ruhte. Sie hatte schließlich angenommen, dass ihre partnerschaftliche Verbundenheit einfach mehr und mehr verblasste, je weiter ihr gemeinsamer Polizeialltag in die Ferne rückte. Die so harmlos erscheinenden Fragen Walcotts machten sie zunehmend nervös und versetzten sie in Alarmbereitschaft. »Ich habe zwei Nachrichten hinterlassen, aber er hat nicht zurückgerufen.« Sie trank einen Schluck Kaffee und beobachtete Walcott, die kaum würde einschätzen können, ob Camerons Verhalten unüblich war oder nicht.
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