1 ...6 7 8 10 11 12 ...25 Wie bei einem Kran muss das Gegengewicht umso stärker sein, je länger der Hebel des Auslegers ist. Somit hat ein Posaunist grundsätzlich mehr muskuläre Arbeit zu leisten als ein Trompeter oder Klarinettist, deren Instrumente näher am Körper gehalten und gespielt werden. Je mehr muskuläre Arbeit zu leisten ist, desto wichtiger ist es, dass die Körperwahrnehmung und die Balance- und Stabilisationsfähigkeit der tiefen Rückenmuskeln (s. o.) ausreichend gut entwickelt sind. Ist dies nicht der Fall, kann es zu Ausweichbewegungen kommen. Die häufigste Art der Kompensation besteht darin, dem vorn wirkenden Hebel des Instruments hinten ein Gewicht entgegenzusetzen, indem das Becken in der Horizontalen nach vorn geschoben wird und gleichzeitig der obere Rücken nach hinten ausweicht (Abb. I.27). Die Auswirkungen dieser Spielposition bestehen in einer erhöhten Kompression der Facettengelenke und der Bandscheiben der Wirbelsäule. Weiterhin sind durch die Rücklage des Oberkörpers die Bauchmuskeln und der Lendendarmbeinmuskel (M. iliopsoas) in ständiger Anspannung, während die Rückenmuskulatur an Spannkraft verliert. Hierdurch sind die Atembewegungen behindert und es können sich zusätzlich längerfristig Rückenbeschwerden entwickeln. Dieses Beispiel zeigt anschaulich, zu welchen Druck- und Spannungszuständen in Gelenken, Bandscheiben und Muskeln eine vermeintlich geringfügige Kompensationshaltung führen kann.
Abb. I.27: Ausweichen nach hinten als Gegengewicht zum Posaunenzug
Auch beim Sitzen mit Instrument hängt die Aufrichtung der Wirbelsäule wesentlich von der Positionierung des Beckens mit den Sitzbeinhöckern ab. Die Wirbel der Wirbelsäule verlaufen aus der Beckenposition nach oben bis zum Kopf wie eine aufgereihte Perlenkette. Befindet sich das Becken in Neutralposition, d. h., sitzt der Spieler auf den Sitzbeinhöckern, so nehmen Lenden-, Brust- und Halswirbelsäule ihre physiologischen Krümmungen ein. Dies stellt die ideale Sitzposition beim Spielen dar (Abb. I.28). Ist das Becken dagegen nach vorn gekippt, d. h., sitzt der Spieler vor den Sitzbeinhöckern, folgen hieraus eine verstärkte Lordose der Lenden- und Halswirbelsäule und eine verringerte Kyphose der Brustwirbelsäule (Abb. I.29). Ist das Becken nach hinten gekippt, sitzt der Spieler also hinter den Sitzbeinhöckern, ist die Lordose der Lendenwirbelsäule aufgehoben, die Kyphose der Brustwirbelsäule wird verstärkt und die Halswirbelsäule stärker gebeugt (Abb. I.30).
Abb. I.28: Geigerin in idealer Sitzposition
Abb. I.29: Geigerin in Sitzposition »vor den Sitzbeinhöckern«
Abb. I.30: Geigerin in Sitzposition »hinter den Sitzbeinhöckern«
Beim Spielen im Sitzen sollte das Becken so eingestellt sein, dass der Spieler auf den Sitzbeinhöckern sitzt. Aus dieser Position ist er für die unterschiedlichen Spielbewegungen in alle Richtungen flexibel. Hierfür ist eine Sitzgelegenheit mit einer neutralen, geraden Sitzfläche von Vorteil. Auch vorübergehend vor oder hinter den Sitzbeinhöckern zu sitzen schadet der Wirbelsäule dann nicht, wenn sich hieraus kein überdauerndes Haltungsmuster entwickelt.
Auch wenn die Prinzipien der Aufrichtung im Sitzen und Stehen funktionelle Gemeinsamkeiten aufweisen, die sich hauptsächlich auf die Stellung des Beckens und den daraus folgenden Aufbau der Wirbelsäule beziehen, so gibt es auch Hinweise auf Unterschiede beim Spiel desselben Instruments im Sitzen und Stehen. So war in Untersuchungen bei Geigern zu beobachten (Spahn et al. 2014; Wasmer und Eickhoff 2011), dass im Sitzen die Tendenz besteht, den Lendenwirbelsäulenbereich beim Spielen bewegungslos zu halten, während im Stehen eine durchlässige Bewegung entlang der gesamten Wirbelsäule zu sehen war. Auch die Position am Notenpult spielte eine Rolle. Links am Pult sitzend waren bei Geigern Brustkyphose und Halslordose weniger stark ausgeprägt als rechts am Pult sitzend. Insgesamt zeigte sich links am Pult ein freieres Spielverhalten mit größeren Bewegungen in Hals- und Brustwirbelsäule.
Der Verbindung Kopf-Halswirbelsäule-Brustwirbelsäule kommt für die Aufrichtung beim Instrumentalspiel sowohl im Stehen als auch im Sitzen eine besondere Bedeutung zu.
Die Einstellung der Lotlinie entlang der Brustwirbelsäule, Halswirbelsäule und des Kopfes ist für Musiker, insbesondere für Bläser, von entscheidender Bedeutung. Die Lotlinie zieht in der Verlängerung des Halses vor dem Ohr nach oben. Bläser sollten aus dieser Position heraus das Instrument zum Mund führen (Abb. I.31), nicht umgekehrt den Kopf nach vorn zum Instrument bewegen (Abb. I.32).
Auf die Funktionseinheit Kopf-Halswirbelsäule-Schultergürtel wirken beim Spielen Kräfte ein, die von den Gelenken und der Muskulatur der Halswirbelsäule aufgefangen werden müssen. Wie bereits oben erklärt, ist die Halswirbelsäule aufgrund ihrer hohen Beweglichkeit dem Risiko ausgesetzt, am Übergang zur weniger beweglichen Brustwirbelsäule nach vorn abzuknicken. Verstärkt wird eine solche ungünstige Position durch eine zu stark gebeugte Brustwirbelsäule – einen »Rundrücken« – sowie das Nach-vorn-Schieben des Kopfes – »Kinn vor« (Abb. I.32). Da in dieser Fehlhaltung die tiefe Muskulatur der Halswirbelsäule nicht optimal arbeiten kann, springen zur Stabilisierung die oberflächlichen Muskeln des Schultergürtels ein. Unter diesen ist hauptsächlich der absteigende Anteil des Trapezmuskels (Abb. I.33) betroffen. Eine erhöhte, länger andauernde Anspannung kann zu den bei Musikern häufigen Schulter-Nacken-Verspannungen und in der Folge zu Spannungskopfschmerzen führen.
Abb. I.31: Trompeter in physiologischer Kopf-Hals-Verbindung: »Instrument kommt zum Spieler«
Nicht nur Bläser, auch Tiefe Streicher können durch den großen Abstand zum Notenständer leicht mit dem Kopf zu weit nach vorn geraten. Bei ihnen ist neben der Wahrnehmung für die richtige Stellung des Kopfes in der Lotlinie ein gutes Sehen wichtig (vgl. Kap. I.5, Abb. I.34). Bei Tiefen Streichern verführen Lagenwechsel, bei denen die Greifhand eine große Distanz auf dem Griffbrett zu überwinden hat und der Spieler die Position auf dem Griffbrett optisch kontrollieren möchte, dazu, einen Rundrücken zu bilden oder die Schultern nach vorn zu ziehen (Abb. I.35a). Diese Haltung kurzfristig einzunehmen ist unproblematisch, allerdings sollte beim Wechsel in die tiefere Lage eine Rückkehr in die optimale Sitzhaltung erfolgen (Abb. I.35b). Das Risiko liegt auch hier darin, unnötigerweise in unphysiologischen Mustern zu verharren.
Abb. I.32: Trompeter in nach vorn abweichender Kopf-Hals-Verbindung: »Spieler kommt zum Instrument«

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