Ebenfalls Kaiser Karl V. stand auf dem Reichstag zu Worms im Jahre 1521 Martin Luther gegenüber, der sich für seine Anhänger auf die Mächte des Himmels, für seine Gegner hingegen auf die Mächte der Hölle zu berufen schien. WOLFGANG BRÜCKNER geht der Frage, Luther als heiligem oder falschem Propheten, in der Spiegelung der Legende und Antilegende im Detail nach und zeigt an einer Vielzahl zeitgenössischer Quellen, so auch der Flugschriften, auf, welche Stationen die Mythisierung der Vita Luthers aufgreift. Während aus katholischer Sicht der Tod Luthers, ähnlich wie bei Faustus, die Bestätigung eines unheiligen Lebens bedeutete, stellte aus protestantischer Sicht der Mythos Luther die wirksame Imagination für das Selbstverständnis der deutschen Reformation dar. Luther wird als neuer Paulus und letzte Instanz für die Auslegung der Bibel gesehen: Fundament einer neuen Kirchlichkeit im Zuge der einsetzenden Konfessionalisierung der Religionsgemeinschaften.
Als Hoffnungsträgerin der Protestanten in England waren die Aussichten von Elisabeth, Tochter König Heinrichs VIII., auf die Regentschaft über ein Land, das von inneren und äußeren Unruhen getrieben war, ebenfalls von religiösen Interessenskonflikten geprägt. Wie VERA NÜNNING überzeugend darlegt, verstand es Elisabeth I. seit Beginn ihrer Herrschaft 1558 als Königin von England, die Imagination ihrer Zeitgenossen so zu lenken, dass sie die Mythisierung ihrer Person maßgeblich zu beeinflussen vermochte. Mit dem Verweis auf ihre göttliche Auserwähltheit und der Berufung auf ihren politischen Körper – gemäß der aus dem Mittelalter stammenden Theorie der zwei Körper eines Herrschers – schuf Elisabeth I. ein neues Herrscherideal mit männlichen und weiblichen Attributen. In der Verehrung der Königin war die Nation geeint.
Die Regierungszeit Elisabeth I. sah ein Aufblühen der Künste. Insbesondere auf den Bühnen Englands wurden unter neuen Vorzeichen die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und die damit verbundenen Möglichkeiten der Selbstbestimmung thematisiert. Der Erfolg des dramatischen Experiments, das Shakespeare mit der Liebestragödie Romeo und Julia wagt, beruht, wie WOLFGANG WEISS an markanten Textstellen verdeutlicht, auf einer Fülle von Neuerungen in der Bearbeitung einer oft überlieferten Geschichte, die den Mythos der absoluten Liebe begründet. Durch den Bruch mit literarischen Traditionen schafft Shakespeare Freiraum und Spielraum für den vielstimmigen Dialog der Liebenden, die erst eine Sprache füreinander finden müssen. Gesellschaftliche Anerkennung wird dem Paar jedoch auf der Bühne erst nach ihrem Tod gewährt.
Seiner Zeit voraus war in vielerlei Hinsicht auch Leonardo da Vinci, wie THOMAS FRANGENBERG aus kunsthistorischer Sicht erläutert. Rätselhaft wie das Lächeln der Mona Lisa bleiben die Beweggründe eines Genies, dessen Mythisierung im Verlauf des 16. Jahrhunderts noch im Schatten von Michelangelo und Raphael verblieb und erst von späteren Generationen vorangetrieben wurde. Seine Zeitgenossen warfen ihm die Unfähigkeit vor, irgendetwas zu Ende zu führen. Aber Leonardos Größe bestand gerade in dem für die Renaissance so charakteristischen Versuch, geltende Grenzen überschreiten zu wollen, wie seine naturwissenschaftlichen Studien und technischen Konstruktionen zeigen. Da sich der Künstler wiederholt in die Abhängigkeiten seiner Gönner und Dienstherren begeben musste, so auch 1502 zu Cesare Borgia, sind die Facetten seines Mythos immer auch im Spiegel der Zeit zu sehen.
Wie VOLKER REINHARDT an den Figuren des Rodrigo Borgia, dem späteren Papst Alexander VI., seinem Sohn Cesare und seiner Tochter Lucrezia veranschaulicht, stellen die Borgias als unheilige Trinität den Wert der Familie über den Wert des Individuums im Sinne Jacob Burckhardts. Wie Gott selbst wollen sie an der Spitze der Kirche gebieten und schrecken dabei vor keinem Mittel zurück, wie der Untertitel des Beitrages „Gift in marmornen Särgen“ verheißt. Rom, oft als Wiege der Renaissance bezeichnet, wird zum Schauplatz des Verbrechens, wobei die Borgias die Umkehrung der gottgewollten Ordnung geradezu zelebrierten. Der Mythos macht, so Reinhardt, ihre Machtausübung zum „nachtschwarzen Karneval“.
Die heiteren Seiten der italienischen Renaissance schildert Javier Gómez-Montero in der Interpretation des Mythos um den Ritter Orlando, dessen Abenteuer als Roland, Orlando oder Roldán vom 11. bis ins 16. Jahrhundert tradiert wurden und zum Bestandteil eines europäischen Imaginariums wurden. Im späten 15. Jahrhundert schufen Luigi Pulci und Matteo Maria Boiardo in Florenz und Ferrara als Auftragswerke literarische Bearbeitungen des karolingischen Stoffes um Roland, von denen insbesondere Boiardos Fassung geradezu revolutionäre Züge zeigt. Im Orlando furioso schreibt Ludovico Ariosto am Mythos Orlando weiter und lässt den fortschreitenden Wahnsinn des Helden als Steigerung des Liebeswahns und damit als Verstärkung der Identitätsproblematik erscheinen. Die Popularität der Figur liegt in ihrer Wandelbarkeit, die in ganz Europa die Zuhörer in ihren Bann zieht.
Als Projektionsflächen unterschiedlicher Imaginationen sind auch die Geschichten von Melusinen, Undinen und anderen Feen, die sich mit sterblichen Männern verbinden, zu erklären, wie BEATE KELLNER am Beispiel des Melusinen-Romans Thüring von Ringoltingens aufzeigt. Die Entstehungsgeschichte des Werks verweist wiederum auf eine europäische Tradierung von Erzählstoffen, die im kulturellen Gedächtnis der Epoche bewahrt werden sollten. Die Frage nach dem Ursprung eines adeligen Geschlechts wird bei Ringoltingen um die Frage nach dem Ursprung sozialer Gemeinschaften erweitert; das Mythische der Melusinenfigur zwischen Mensch und Dämon, zwischen Mensch und Tier, wird jedoch, so Kellner, zur „Chiffre der Unergründlichkeit des Ursprungs“ an sich.
An der Abstammung von Demetrius als totgeglaubtem Sohn des Zaren Iwan IV. hatten, so der Historiker JAN KUSBER, dessen Zeitgenossen nicht unbegründete Zweifel. Nach heutigem Stand der Forschung handelte es sich tatsächlich um einen „falschen“ Zaren. Die Konfliktlage zwischen katholisch geprägter, polnischlitauischer Adelsrepublik und orthodoxem Moskauer Zarentum sowie wirtschaftliche Nöte spitzten sich in der sogenannten Zeit der Wirren jedoch so zu, dass es dem vermeintlichen Nachfolger möglich war, sein Recht auf den Zarenthron einzufordern. Insbesondere die Orientierung nach Westen, von der Demetrius seine Zeitgenossen zu überzeugen versuchte, trug zur europaweiten Mythisierung des Herrschers über das Moskauer Reich bei, das bereits unter Iwan IV. mehr und mehr in die mittel- und osteuropäische Wahrnehmung gerückt war.
Mit dem Narren als Symbolfigur einer Welt des Umbruchs stellt Werner Mezger an ausgewählten Beispielen der Bildtradition eine Schlüsselfigur der Imagination vor, die sich von der noch mittelalterlich geprägten apokalyptischen Figur zu einem beliebig verfügbaren und höchst vielseitigen Konzept weiterentwickelt hatte. Ob im Lob der Torheit von Erasmus von Rotterdam oder im Narrenschiff von Sebastian Brant: In der Renaissance klingen nun selbstironisierende Töne an, die mehr und mehr die Gesellschaft der Zeit an sich in Frage stellen und an ihr so Kritik üben. Die Entwicklung einer reich ornamentierten Narrensprache in den Schriften zeigt sich auch in der bildenden Kunst, und trägt auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen bereits manieristische Züge. Mit dem beginnenden 17. Jahrhundert beginnt der Narr seinen Spiegel umzudrehen und der Welt vorzuhalten, damit sie ihre Verkehrtheit darin erkenne.
Die in diesem Band zusammengestellten Beiträge wurden im Wintersemester 2005/06 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt als Vorträge gehalten. Die Konzeption wie die organisatorische Durchführung der Vortragsreihe lag in den Händen von Verena Dolle, Andreas Hartmann, Michael Neumann, Alexei Rybakov, Almut Schneider, Christine Strobl und Angela Treiber. Für die äußerst kompetente redaktionelle Bearbeitung des Bandes sei Andreas Fuchs, für die sehr sorgfältige Durchsicht des Manuskripts sowie die Überprüfung der bibliographischen Angaben sei Benjamin Kraus sehr herzlich gedankt.
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