EIGENTÜMLICHKEITEN, AN DIE MAN SICH GEWÖHNEN MUSS
Die Taxis. – Das Telephon. – Linksgehen. – Straßenbahnsitten. – Der Breitner. – Die Politik.
Lesen Sie dieses Kapitel unbedingt als erstes. Es bildet die unerlässliche Voraussetzung zum richtigen Verständnis alles Vorhergehenden und Folgenden.
Bevor man sich auf einen näheren Umgang mit Wien einlässt, ist es nötig, seine Art und Weise kennenzulernen. Wahrscheinlich ist das in allen großen Städten nötig, in die man zum ersten Mal kommt. Jede Stadt hat ihren Hausbrauch, ihre Eigenart. Aber Wien hat außerdem noch eine Fülle von Eigentümlichkeiten: komische, seltsame Züge, Einrichtungen und Gewohnheiten, die häufig im krassen Gegensatz zu europäischen Normalbegriffen stehen. Oh, wir kennen unsere kleinen Fehler und Schwächen ganz genau. Darum gewöhnen wir sie uns auch nicht ab. Ja, wir schimpfen und raunzen gern darüber, wir machen uns leidenschaftlich über uns selbst lustig. Aber im Grunde sind wir auf unsere Eigentümlichkeiten stolz. Wir haben gar nichts dagegen, wenn der Fremde mitraunzt, mitwitzelt. Aber wenn er sich ernstlich entrüstet oder uns gar belehrend hofmeistern will, wenn er sagt: »Nehmen Sie sich an London, an Berlin ein Beispiel«, dann bekommt er sofort die entwaffnend apathische Antwort: »Tuans Ihna nix an!« Das heißt: So gescheit wie Sie sind wir schon lang. Regen Sie sich nicht auf, es nützt Ihnen ohnehin nichts … Und da Wien, so wie es ist, ganz reizend ist, kann ich Ihnen nur den Rat geben, sich über unsere Eigentümlichkeiten zu orientieren, sich an sie zu gewöhnen. Dann wird es Ihnen bald in Wien so gut gefallen, als ob Sie ein echter, unzufriedener Wiener wären …
» Links gehen! « Früher ist jeder in Wien auf der Straße so gegangen, wie er wollte und nach dieser einzigen, für uns geeigneten Vorschrift ging es meistens ganz gut. Sogar im Umsturzjahr, wo die Mehrheit von selbst »links ging«, nämlich ins Lager der Republik und der Sozialdemokratie. Bis vor einigen Jahren der Polizeipräsident Schober den Entschluss fasste, dass für den Wiener Verkehr etwas geschehen müsse, weshalb er den kategorischen Straßenimperativ erließ: Alles muss links gehen! Sofort gingen die bisher überzeugten Linksgeher rechts. Nach diesem verheißungsvollen Anfang trat der weiße Strich in seine Rechte. Bei der Opernkreuzung, wo mit Hilfe von Richtungslinien, Pfeilen und Strafmandaten die erste Wiener Gehschule etabliert wurde. Anfangs schien es, als ob das Ganze ein Einfall unserer Revue- und Coupletautoren wäre, die davon monatelang lebten. Der Erfolg war enorm. Die Menge staute sich bei der Opernkreuzung zum Verkehrshindernis, und ein Wiener sah dem anderen schadenfroh zu, wie er hinüberging. Aber es war tatsächlich ein Einfall der Wiener Polizeidirektion, wodurch die Sache bald den Reiz der Neuheit verlor. Seitdem man weiß, dass es bloß eine amtliche Vorschrift ist, geht wieder jeder über die Opernkreuzung nach seiner individuellen Richtung und so geht alles in Ordnung.
Zum Linksgehen gehört auch das Verbot des Wegwerfens von Papieren. Nicht etwa von entwerteten Börsenpapieren, sondern von sonstigen wertlosen Abfällen. Dafür gibt es an jeder dritten Laterne Behälter, sodass Wien jetzt im sinnigen amtlichen Zeichen des Papierkorbes steht. In den Flitterwochen der neuen Papierordnung gab es eine Hausse in Strafmandaten, die am Ort der Tat eingehoben wurden. Seitdem hat auch diese letzte Konjunktur stark nachgelassen. Angeblich erwägt die Polizei die Herabsetzung des Preises auf einen Schilling, um auch den Minderbemittelten das Wegwerfen von Papierln zu ermöglichen. Das freie Ausspucken und Ansprechen ist auf der Straße noch nicht verboten, wird aber trotzdem fleißig geübt.
» Bitte um Feuer! « Gewöhnen Sie sich rechtzeitig daran, diesem Wort Folge zu leisten, ohne mit der Wimper oder mit der Zigarette zu zucken. Eher können Sie sich gegen den Befehl »Im Namen des Gesetzes!« oder gegen den Räuberzuruf »Hände hoch!« mit Erfolg auflehnen, als gegen den Mann, der auf der Straße, in der Straßenbahn oder wo immer an Sie herantritt und mit hingehaltener, nichtbrennender Zigarette etwas drohend murmelt. Halten Sie still, auch wenn er dabei Ihre gute Zigarre misshandelt oder wenn er mit einem sichtlich unmanikürten kleinen Finger an dem Ihren zutraulich Anlehnung nimmt. Wenn Sie noch so eilig dahinstürmen, kann Sie dennoch jeder Passant mit der Bitte um Feuer anhalten. Sie gehört zu den verbrieften Wiener Menschenrechten und wer sie abschlagen wollte, würde interessante Vokabeln aus dem Wiener Schimpfwörterbuch zu hören bekommen.
» Bitte vorgehen! « Dieser Imperativ ist die abgekürzte Formel für unsere Straßenbahnkonfusion, die sich auf alte Traditionen gründet, zu deren Erhaltung Straßenbahndirektion und Bevölkerung aufopfernd das ihre beitragen: Die eine durch Vorschriften, die andere durch pflichtgetreue Nichtbeachtung. Verboten ist unter anderem: das Auf- und Abspringen, bei der »Ein«-Stiege auszusteigen und bei der »Aus«-Stiege einzusteigen, bei der Wagentür stehen zu bleiben, mit dem Fahrer zu sprechen und frei auszuspucken. Folglich müssen Sie, wie alle Fahrgäste, das Gegenteil davon tun, sonst machen Sie sich lächerlich und unbeliebt und jeder wird sich sofort geringschätzig denken: Wahrscheinlich ein Fremder. Ferner wollen Sie folgende Regeln beachten: In der Straßenbahn fahren durchweg Menschen, die »eh« gleich aussteigen, nämlich bei der nächsten oder bei der fünfzehnten Haltestelle. Wenn Sie daher auf den klagenden Schaffnerruf: »Bitte vorgehen!« wirklich vorgehen, wird dieses seltsame Vorgehen allgemeines Befremden erregen und die größte Konfusion, wie immer, wenn einer hier ganz korrekt vorgeht. Wollen Sie die Wiener Volksseele restlos kennenlernen, dann fahren Sie einmal im Beiwagen der O-Linie. Angesichts dieser Überfüllung werden Sie Ihren Hühneraugen nicht trauen und Sie werden staunen, wie leidenschaftlich Wäschekörbe, Nähmaschinen, Bilderrahmen und sonstiges Hausgerät in der Straßenbahn fahren. Bewahren Sie kaltes Blut, wenn jemand eine vertraulich alkoholische Ansprache an Sie richtet oder Ihnen herzlich ins Genick niest oder hustet. Er könnte es ja auch mit demselben Recht von vorn tun. Erheben Sie dagegen um Gottes willen keinen Einspruch, denn je gesitteter und gebildeter Sie es tun, desto gröber fällt die Antwort aus. Meistens gipfelt Sie in dem wohlmeinenden Rat: »Wann Ihna was net recht is, nehmens Ihna an Auto!«
» Wie viel Uhr ist es? « Nicht nur die Wiener Menschen, auch die leblosen Wiener Dinge haben ihre Eigentümlichkeiten. In dieser Stadt der kleineren und größeren Ungenauigkeiten haben sich sogar die öffentlichen Uhren dem Rhythmus der Schlamperei angepasst. In Salzburg wussten Sie noch genau, wie viel Uhr es ist, vielleicht noch in St. Pölten, aber in Wien wissen Sie es nach einigen Tagen nicht mehr. So wie die Bevölkerung alles partei- und klassenmäßig beurteilt, sind auch die Uhren hinsichtlich der Zeit, die sie anzuzeigen haben, ganz verschiedener Ansicht. Die einen sind reaktionär und bleiben täglich zurück, die anderen gehen radikal vor. Die Rathausuhr ist anderer Meinung als die bei der Opernkreuzung, und die Kontrolluhren bei den Straßenbahnhaltestellen haben wieder ihre eigene, kommunale Zeit, die aber mit der Rathauszeit nicht übereinstimmt. Verlässlich ist nur die Uraniazeit, aber wer kann immer zur Urania bei der Aspernbrücke fahren. Am schwankendsten ist der Zeitpunkt auf den Wiener Bahnhöfen, wo es oft unten im Vestibül um fünf Minuten später ist als oben in der Abfahrtshalle. Angeblich über höheren amtlichen Auftrag, damit sich die Reisenden unten hetzen und sich dann oben freuen, dass sie noch Zeit haben … So gehört zu den vielen Fragen, auf die Sie im heutigen Wien keine genaue Antwort bekommen, auch die: »Wie viel Uhr ist es?« Aber dafür weiß man wenigstens in den meisten Fällen, wie viel es geschlagen hat.
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