Vor der Bahnhofshalle parkten Wagen der SS und mehrere Militärfahrzeuge und eine Reihe Einsatzwagen der Polizei, von deren Dächern Scheinwerfer eine dichte Menge sich drängender Männer, Frauen und Kinder aus dem Dunkel rissen. Reisende, die verstohlen durch die rechte Glastür ein und aus gingen, wagten es kaum, den Kopf zu wenden und sahen zu, dass sie eilig verschwanden.
Zur Befriedigung Oberinspektor Runstedts schien die tags zuvor durch Himmler angeordnete Festnahme aller in Duisburg erreichbaren polnischen Juden reibungslos verlaufen zu sein. Er hatte Wehklagen und Gezeter erwartet, keineswegs diese meist stille Resignation der aus allen Ecken der Stadt auf Lastwagen und Bussen hergeschafften Menschen. Unnötig, dass die SS so herumschrie. Das konnte den Ablauf nur stören. Die Juden wehrten sich ja nicht, waren lediglich bemüht, sich mit ihren Bündeln, Koffern und Schachteln nicht gegenseitig zu behindern, und schienen sich mit ihrem Schicksal abzufinden.
Bald war die Bahnhofshalle vollgepfercht, der Zustrom brach ab. Die linken Eingänge wurden geschlossen, und die SS-Posten zogen Seile, um die Juden von den Schranken und Schalterfenstern zu trennen. Die Befehle verstummten. Dafür begannen Gestapobeamte sich mit Polizeioffizieren zu streiten, die ihrerseits den Bahnhofsvorsteher und andere Bahnangestellte zur Rede stellten. Allgemeine Verwirrung machte sich breit. Offensichtlich stand der Sonderzug nach Polen noch nicht auf dem vorgesehenen Gleis. Ein SS-Führer fauchte etwas von Schlamperei, ja sogar Sabotage.
Inzwischen war es vier Uhr geworden. Die Menschen hinter den Trennungsseilen froren, einige hatten sich Decken um die Schultern gelegt, Koffer waren an die Wand gestellt worden, damit die Alten sich setzen konnten. Man hatte auch versucht, den Kindern notdürftige Schlafstellen zu bereiten. Aus hellwachen, angstvollen Augen blickten sie um sich, nur wenige von ihnen, übermüdet und beruhigt durch den Zuspruch ihrer Eltern, schliefen ein.
Eine kleine Gruppe hatte sich zur Morgenandacht zusammengefunden. Ihr leiser Gesang drang hin zu ihren Bewachern. Die SS-Posten lachten, als sie sahen, dass die Männer die Arme entblößt und Gebetriemen angelegt hatten. Doch die Juden hatten die Gesichter gegen Osten gewandt und blieben im Gebet versunken.
Bei den Glastüren waren viele der jüngeren Juden um einen hochgewachsenen dunkelhaarigen Mann geschart. Mit beherrschter Stimme gab er Rat: »Zusammenhalten, helfen, wo Hilfe nötig ist. Schlome, du wirst Frau Seligs Koffer tragen, Miriam, du kümmerst dich um die kleine Ruth, sie schafft es nicht, ihr Brüderchen allein zu versorgen. Und du, Naomi …«
Nachdem alle ihre Aufgaben hatten, forderte er sie auf, die Hatikwa zu singen, und stimmte das Lied selbst an. Die anderen fielen ein, und mit der Melodie schienen auch wieder die Hoffnungen zu keimen.
»Ruhe in der Judenschule!«, brüllte ein SS-Mann.
Das Lied verstummte. Sie reichten einander die Hände. »Chasak«, sagte der dunkelhaarige Jude. »Seid stark!« Dann zerstreute sich die Gruppe. Bis Dr. Ruben von Oberinspektor Runstedt für sich und eine jüdische Krankenschwester die Zustimmung erwirkt hatte, durch die strenge Absperrung in die Bahnhofshalle zu gelangen, dämmerte es schon. Im grellen Scheinwerferlicht, das seine Schatten auf die Steinfliesen warf, gingen sie durch die Glastüren. Beim Anblick der gedrängten Menge fragte sich Dr. Ruben, was ihm hier noch zu tun übrig blieb. Die Anordnungen der Reichsregierung waren brutal, doch nichts dagegen auszurichten. Er konnte nur versuchen, die Not dieser Menschen lindern zu helfen. Die Krankenschwester bekam rasch viel zu tun, ihn aber trafen vorwurfsvolle, ja fast feindliche Blicke. Nachdem er den Schuhmacher Isidor Stern gefunden und ihn gebeten hatte, den Leuten mitzuteilen, dass er als Rechtsanwalt etwas für sie tun wollte, wandten sich einige mit Fragen an ihn. Er notierte die Anschriften von Verwandten in Chicago, Cape Town, Tel Aviv, Sydney und Buenos Aires, denen er Nachrichten zukommen lassen sollte.
»Mein Sohn Herschel in New York«, sagte ein alter Mann, »bitten Sie ihn, dass er jemand findet, der ein Affidavit schickt!« Er hielt besorgt inne. »Aber wohin soll man es schicken?«, fragte er dann.
»Ja, wohin?«, fielen andere ein.
»Zunächst an mich«, erklärte Dr. Ruben. »Sobald ich weiß, wohin man Sie gebracht hat, gebe ich alles weiter. Ich werde für Unterstützung aus dem Ausland sorgen und alles Nötige veranlassen, darauf haben Sie mein Wort!«
»Meine Tochter Chanele in Ramat Hadar«, unterbrach ihn eine Frau, »hier ist ihr Foto, bitte versuchen Sie, sie zu erreichen. Chanele ist meine Hoffnung, sie ist alles, was ich habe auf der Welt!«
Dr. Ruben schrieb sich die Adresse auf, nahm sogar Postgebühren entgegen, weil das die Bittenden beruhigte, versprach, sich um verlassene Wohnungen, Geschäfte und Eigentumsansprüche zu kümmern. Ein Mann drängte sich zu ihm und gab ihm vierzig Mark.
»Ich heiße Nathan Seligsohn, und das ist für die Miete, die ich noch schulde. Doch, doch, Sie müssen es ihr geben, sie ist eine gute Frau.« Er blickte auf die SS-Posten. »Nicht eine wie die hier. Sie wohnt …«
Dr. Ruben konnte gerade noch hören, wo die Wirtin wohnte, als eine Stimme gellte: »Achtung!« Vom Tunnel her kamen durch die Sperren Polizisten, Bahnangestellte und Gestapobeamte auf eine Gruppe höherer SS-Männer zu, zwischen denen Oberinspektor Runstedt zu erkennen war. »Achtung!«, gellte die Stimme wieder. »Fertigmachen und zur Kontrolle vortreten, dann ab zum Bahnsteig vierzehn, Gleis B.«
Nathan Seligsohn kehrte Dr. Ruben den Rücken und eilte zu seinem Gepäck. Die Menschen waren von ihren Bündeln und Koffern aufgesprungen und hatten sich den Sperren zugewandt, wo Polizisten mit Listen standen.
»Dem Alphabet nach!«, brüllte die Stimme.
Die Polizisten sprangen vor und riefen Namen auf: »Aaronsohn, Jakob, Aaronsohn, Ester, Abramowicz, Leib, Abramowicz, Sarah, Abramowicz, Rachel …«
Leib und Sarah Abramowicz traten zusammen vor, die Frau stützte sich schwer auf den Arm ihres Mannes und trug nur ein Bündel, er schleppte einen Koffer.
»Wo ist die andere, Rachel Abramowicz?«, fragte der Mann.
»Sie ist krank und liegt in einem Altersheim«, erklärte Leib Abramowicz.
Der Polizist sagte »Warten!« und eilte zu Oberinspektor Runstedt, der nach einem kurzen Blick auf die Bahnhofsuhr nur ein Wort erwiderte: »Herholen!« Der Beamte leitete den Befehl weiter, und Augenblicke später sprang vor dem Bahnhof ein Motor an, ein Einsatzwagen wendete, das Licht der Scheinwerfer strich über die Glastüren.
»Also vorwärts, meine Herrschaften!« Der Polizist hakte die Namen von Leib und Sarah Abramowicz ab.
»Sie wird sterben«, rief die Frau, »bitte können Sie nicht –«
»Ich kann gar nichts!«, unterbrach er sie, ohne von der Liste aufzublicken. »Aschkenasy, Joachim, Ascher, Moses, Ascher, Naomi, Ascher, Lea …«
Um fünf Uhr siebenunddreißig war die Halle geräumt. Polizei, SS-Posten und Gestapo waren im Tunnel verschwunden. Vor dem Bahnhof erloschen die Scheinwerfer. Grau und trist lag jetzt die Halle da. Ein paar Reisende bewegten sich beklommen auf die Schalter zu. Hinter den gespannten Seilen hatten Putzfrauen schon begonnen, den Boden zu fegen. Eine hob ein Gebetbuch auf, dann eine Puppe, einen Gürtel, einen Kinderschuh.
Punkt fünf Uhr achtundvierzig setzte sich auf Bahnsteig vierzehn ein zum Teil aus geschlossenen Viehwagen bestehender Sonderzug in Richtung Polen in Bewegung.
Vom Tunnel her kamen Dr. Ruben und die Krankenschwester zurück, gingen an den Schaltern und den Plakaten vorbei, die zu erholsamem Urlaub in Großdeutschland einluden, und traten ins Freie. Die Auffahrt war inzwischen von den Fahrzeugen geräumt, und nur noch die verspätete Ankunft eines Einsatzwagens mit der verstört dreinstarrenden Rachel Abramowicz erinnerte daran, dass dieser Tag nicht so gewöhnlich wie sonst begonnen hatte. Dr. Ruben ging auf das Auto zu, wies sich aus und bat, sich der Frau annehmen zu dürfen.
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