»Sie haben uns gerade noch gefehlt!«, wurde ihm entgegnet. Der Motor heulte auf, und der Wagen fuhr davon.
Kein Fahrzeug versperrte mehr die Eingänge. Alles sah so friedlich aus wie sonst an einem Wochentag vor dem Berufsverkehr. 3
An jenem Sonntagmorgen des Dezembers 2008 hatte ich in den Berliner Kammerspielen gerade noch einen Platz in den oberen Rängen gefunden – das Theater war zu klein gewesen für die Veranstaltung mit der nunmehr fünfundachtzigjährigen Inge Keller. Anlässlich ihres Geburtstages hatte die Jubilarin Gregor Gysi in einem seiner Zwiegespräche mit Zeitgenossen Rede und Antwort gestanden. Auf ihre eigene, unnachahmliche Weise hatte sie Zeichen und Pausen gesetzt, sie den verstorbenen Theatermännern Barlog, Langhoff, Heinz und Busch Handküsse ins Jenseits zugeworfen und ihren heutigen Geburtstag ein gnadenvolles und zugleich schweres Datum genannt. Gegen Ende dann war es der Schauspielerin ein Anliegen gewesen, Volker Brauns Verse vorzutragen, die seit der Wende im Osten ein weites Echo gefunden hatten: »Da bin ich noch, mein Land ging in den Westen , KRIEG DEN HÜTTEN, FRIEDE DEN PALÄSTEN. Ich selber habe ihm den Tritt versetzt. Es wirft sich weg und seine magre Zierde. Dem Winter folgt der Sommer der Begierde. Und ich kann bleiben, wo der Pfeffer wächst. Und unverständlich wird mein ganzer Text. Was ich niemals besaß; wird mir entrissen. Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen. Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle. Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle. Wann sag ich wieder mein und meine alle.«
Von weit oben im Rang auf Inge Keller hinunterblickend, kommen mir Bilder ihrer Aufführungen in den Sinn, eindringlich ihre Frau Alving in Ibsens Gespenster , und unvergesslich auch noch nach so vielen Jahren ihre Iphigenie … und unversehens war ich in eine Nacht jenes jugoslawischen Sommers 1968 zurückversetzt, als sie Etta Cameron und mich nicht aus dem Blick gelassen hatte. Die Nacht war lau, im Himmel glänzten die Sterne, die Wellen der Adria schlugen sanft gegen die Felsen, und Inge Keller, allein an einem Tisch auf der Hotelveranda von Cavtat, hatte zugesehen, wie wir uns der Musik anpassten, wir eins wurden in der Bewegung, ein Mann und eine Frau aufs engste verbunden – dabei hatte dies unser letzter Tanz vor dem endgültigen Abschied sein sollen. Als die Band zu spielen aufhörte, waren Etta und ich zu den Klippen gegangen, schweigend hatten wir übers Meer geblickt, hin zu den fernen Inseln, über die sich das Abendlicht senkte, und wir sprachen auch nicht, als wir zurück zur Ortschaft gingen, wo, weitab von den Unterkünften der Filmcrew, zu der Etta gehörte, in einem Haus ein Zimmer für uns bereitstand. Doch als wir dort miteinander schliefen, ein letztes Mal, wie wir glaubten, war es für uns beide inniger denn je, und zugleich auch schmerzerfüllt. Und noch in den Morgenstunden widerrief ich die Absicht der Trennung, beteuerte, dass ich sie liebe und immer lieben würde. Sie hatte gelächelt, mich geküsst, mir war, als glaubte sie jedes meiner Worte. Innerlich erleichtert und zugleich auch wieder von den Konflikten bedrängt, denen ich hatte entgehen wollen, war ich abgereist. »Meine Wohnung in Berlin wird unsere Wohnung bleiben«, hatte ich ihr versichert, »Du kommst zu mir zurück, wenn deine Dreharbeiten hier getan sind.« Dem hatte sie mit einem leisem »Yes« zugestimmt und ich – war erleichtert gewesen.
Mitte der sechziger Jahre, nach der Veröffentlichung meines Reportagebandes Begegnung mit Amerika – heute , hatte es etliche Einladungen zu Lesungen in größerem und kleinerem Kreis gegeben. Auch zu einer der Soireen bei der Malerin Waluscha, einer gastlichen, mütterlichen Frau, die von dem Erlös ihrer Bilder einen Haushalt bestritt, zu dem auch eine Katzenfamilie gehörte. Die geräumige Wohnung am Berliner Prenzlauer Berg eignete sich gut für Geselligkeiten mit Wein und Gesang und stets fanden die Goulaschsuppen Anklang, die Waluscha aus enormen Töpfen schöpfte. Dabei waren es nie bloß Geselligkeiten, Lyrik wurde vorgetragen, Autoren lasen aus Manuskripten oder stellten eine Neuerscheinung vor. Zur Einführung meiner Amerika-Reportage hatte die Malerin auch eine schwarze Sängerin aus Boston eingeladen, die zurzeit in Berlin gastierte und die allein schon wegen meiner Harlem- und Südstaaten-Schilderungen das Gespräch mit mir suchte. Nachdem sie die in meinem Buch zitierten Gefängnisaufzeichnungen einer jungen weißen Bürgerrechtskämpferin aus Atlanta mit dem Blues Sometimes I feel like a motherless child untermalt hatte, war sie auf mich zugegangen. »How would you translate destined into German?«, hatte sie mich gefragt, und das waren die ersten Worte, die Etta Cameron an mich richtete.
Nie gekannte Gefühle bewegten mich, als ich zusammengekauert auf dem Zementfußboden hockte, um nicht verletzt zu werden. Ich zitterte am ganzen Körper, und trotzdem fürchtete ich mich im Grunde nicht. Ich wusste, sie konnten mit mir machen, was sie wollten, ich würde es ertragen. Der Fußboden war kalt, ich war ganz steif und fühlte mich sehr schlecht, und ich konnte nichts sehen, weil ich den Kopf in den Armen vergraben hatte. Ich war vollkommen allein und von nacktem Hass umgeben, aber meine Überzeugung verlieh mir genügend Kraft, alles furchtlos zu ertragen. Gewiss, ich fürchtete mich vor körperlichen Schmerzen, aber ich hatte keine Angst, dass ich in meiner Überzeugung wankend werden könnte. Lautlos sang ich Lieder wie We Shall Overcome, Down The Road und We Shall Not Be Moved . Und ich dachte im Stillen: Es sind nicht nur bloße Worte, sie haben eine tiefe Bedeutung. Ich hätte mich zutiefst gedemütigt fühlen müssen durch das, was der Mann über mich gesagt hatte, und durch die Art, wie ich dort kauerte, aber ich empfand im Gegenteil ein Gefühl des Stolzes. Ich wusste, man konnte mich nicht mehr demütigen als jeden Schwarzen, der in Amerika lebt und all dem ausgesetzt ist, was ich in dieser Zelle erdulden musste. Und ich erkannte, dass ich nicht nur um das Recht kämpfte, mit meinen Freunden in einem öffentlichen Restaurant zu sitzen und zu essen – ich kämpfte um das Ansehen und die Würde des Menschen. Wenn man meine Freunde nicht achtet, dann achtet man auch mich nicht, das ist meine feste Überzeugung. Alle diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich zitternd in der Zelle kauerte. Gewiss, mir kamen auch Zweifel, ob ich mir wirklich im Klaren war, wofür ich kämpfte; doch das dauerte nur einen Augenblick. Ich wusste, man konnte mich furchtbar schlagen und misshandeln, weil ich mich der Freiheitsbewegung der Schwarzen angeschlossen und mich dazu bekannt hatte, und ich wusste, dass ich stark bleiben und nicht schwach werden würde. Gott hat mir so viel gegeben – nicht weil ich es verdiene, sondern weil meine Haut zufällig weiß ist. Wenn ich vielleicht mehr wert bin als mancher andere, dann doch nur um meiner menschlichen Eigenschaften willen und nicht auf Grund eines physischen Merkmals, für das ich gar nichts kann. Ich sehe Hass und Ignoranz und Vorurteile und weiß nicht, mit welchen Mitteln ich dagegen kämpfen kann – es scheint so aussichtslos – aber ich muss den Mut haben und es versuchen. Und ich werde nicht aufgeben. 4
Destined , vorbestimmt – wenig später hatte ich Angela, meine Frau, angerufen, um ihr zu sagen, es sei bei Waluscha noch recht gesellig und dass ich vorhabe, in Berlin zu übernachten. Sie zeigte sich nicht erstaunt, obwohl ich seit der Amerikareise meine Stadtwohnung nicht mehr genutzt hatte. »Bleib nur«, hatte sie gesagt, »ruf mich später noch mal an.« Dazu schwieg ich, zögerte und eben dieses Zögern ließ sie hinzufügen: »Musst du auch nicht – bis dahin schlafe ich sicher längst.« »Eben«, sagte ich, »bis morgen also. Schlaf gut.« »Du auch«, hörte ich sie antworten, dann legte sie auf. Einen kurzen Augenblick noch war ich am Telefon geblieben, hatte sogar erwogen, noch einmal anzurufen, es dann aber sein lassen und war zur Geselligkeit zurückgekehrt. Etta war umringt, ich sah sie schlank und grazil zwischen den Gästen, ihr schwarzes Haar glänzte im Kerzenlicht, an ihren Armen und Händen schimmerte Schmuck, ihr Lachen füllte den Raum. Ich hielt mich abseits, schenkte mir Whisky ein und sah aus den Augenwinkeln, wie sie sich von der Gruppe löste und dorthin zurückkehrte, wo wir gesessen hatten. Ich folgte ihr, und es stellte sich dieses Gefühl harmonischer Übereinstimmung ein. Wir hielten uns abseits und irgendwann bot ich ihr an, sie zum Hotel zu fahren. Sie schien erfreut darüber und bedankte sich. »Es liegt auf dem Weg«, sagte ich ihr. »You live in Berlin?«, fragte sie. »Only partially«, erwiderte ich, und beschrieb meine Anderthalbzimmer-Zweitwohnung. »Your retreat?« Ich nickte. Und lieferte ihr auch dafür das deutsche Wort: Zufluchtsort.
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