Die Karten für das Tempelhofer Benefizkonzert waren teuer gewesen – bis zu 140 Euro hatten die vorderen Plätze gekostet. Der Erlös sollte der Freya von Moltke-Stiftung für die gegenseitige Verständigung junger Menschen zugesprochen werden. Beim Anblick der Zuhörer, alles wohlsituierte Leute mittleren Alters, konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, unter all den Gästen einer der wenigen zu sein, der persönliche Erfahrungen mit den Nazis hatte – das Grauen, das mich beim Anblick der brennenden Synagoge packte, das Entsetzen, als die Flammen auf das Nebengebäude übergriffen, auf meine Schule, und die Erkenntnis, dass die Feuerwehr nur die anliegenden Gebäude vor den Flammen zu bewahren suchte. Vor der Synagoge in der Düsseldorfer Kasernenstraße hatte sich eine stumm gaffende Menschenmenge versammelt, bald aber war schadenfrohes Gejohle laut geworden – endlich büßten die Juden für den Mord in Paris. Ich wusste, was damit gemeint war – wer wusste in jenen Tagen nicht, dass in Paris ein deutscher Botschaftsmitarbeiter von einem jungen polnischen Juden erschossen worden war. Nur weg von hier, dachte ich, nur weg! Ich sah die Kuppel der Synagoge in die Flammen stürzen, die Flammen aus den zerborstenen Fenstern lodern, sah die Schule lichterloh brennen, ehe ich zur Straßenbahnhaltestelle rannte, von wo aus mich die Linie D von Düsseldorf nach Duisburg bringen würde. Mein Elternhaus erreichte ich in dem Augenblick, als zwei Männer in Regenmänteln und mit breitkrempigen Hüten den Vater die Steintreppe hinunter zur Straße führten. Vaters Blick war nach innen gerichtet – er schien mich nicht wahrzunehmen. Ich wollte etwas sagen, doch als sie ihn in den Mercedes stießen, brachte ich kein Wort hervor. Die Männer zwängten sich neben ihn, einer auf jeder Seite, die Türen wurden zugeschlagen – und dann war Vater fort. Ich lief ins Haus und suchte die Mutter. Nicht lange später hörten wir das Stampfen von Stiefeln auf der Steintreppe, krachend wurde die Haustür aufgebrochen, wir flohen in den Keller, hörten das Poltern über uns, hörten wie in den Zimmern unserer Wohnung die Möbel zertrümmert wurden, laute Stimmen drangen zu uns in den Keller, wieder stampften Stiefel über die Steintreppe, die SS-Männer schienen abzuziehen, ohne nach uns zu suchen – da beruhigte ich mich und ich schwor mir, dass ich eines Tages, eines Tages …
Ich dachte weiter an den Vater, immerzu dachte ich an ihn – wohin hatten sie ihn gebracht, was würde mit ihm geschehen? Es half wenig, dass ich versuchte, mich und die Mutter damit zu beruhigen, er sei doch ein bekannter Rechtsanwalt und früher Offizier im Krieg gewesen, mit Eisernem Kreuz, und Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde … das würde ihn sicher schützen. Sie schwieg dazu, und wohl da schon hatte sie den Entschluss gefasst, am folgenden Morgen im Polizeipräsidium nachzufragen, wo er zu finden sei. Nie vergesse ich, wie wir beide durch die langen Gänge irrten, wo unsere Schritte von den Wänden widerhallten, wir von Tür zu Tür liefen und die Mutter an mehrere anklopfte, ohne auch nur einen Hinweis über Vaters Verbleib zu bekommen, bis endlich ein Beamter in einem der Zimmer den Ort Dachau nannte, was die Mutter erbleichen ließ, und dann standen wir wieder vor dem roten Backsteingebäude und warteten auf die Straßenbahn, die uns zur Mühlheimerstraße bringen würde, von wo es nur ein paar Schritte zu unserem Haus waren … was es mit dem Ort Dachau auf sich hatte, begann ich erst zu ahnen, als nach drei Wochen mein Vater in das verwüstete Haus zurückkam, abgemagert und mit geschorenem Kopf. Er erklärte nichts, sagte nichts, und es brauchte auch keine Worte …
Schreib das auf, schreib es! Aber nicht nur über Vaters Heimkehr und den Tag seiner Festnahme, sondern auch von der guten Zeit würde ich schreiben, die mit meinem Wechsel zur jüdischen Schule in Düsseldorf begann, dem Neuanfang, der lange Straßenbahnfahrten und einen beträchtlichen Fußweg nötig machte – was ich gern auf mich nahm. Denn die neue Schule gab mir Einblicke in jüdisches Leben, jüdische Geschichte und – erstaunlich! – auch in deutsches Kulturgut, von dem ich im Realgymnasium wenig erfahren hatte. Herr Rothstein, mein neuer Deutschlehrer, regte zum Lesen von Dramen an, die ich auf der Bühne nur bei Umgehung von Verboten hätte erleben können – Goethe, Schiller, Kleist, Lessing. Er war mehr als nur ein Kenner, schätzte die deutsche Dramatik sehr, und auch Chaim Stern tat das, mit dem ich die Schulbank teilte. Stets hatte er ein zerfleddertes Reclam-Heft von Goethes Faust bei sich, aus dem er vorlas. Sie beide, Herr Rothstein und Chaim, regten mich zum Nachdenken über den tieferen Sinn jener Dramen an. Wegen seiner Besonnenheit und seines Wissens wirkte Chaim beträchtlich älter als ich, hatte mir aber nur wenige Wochen voraus. Er kam in Bundschuhen daher, kurzen Lederhosen – zünftig, wie ich fand – und in allem wollte ich es ihm nachtun. Und nur weil er aus Deutschland zu fliehen plante, über die Grenze nach Holland, und dann weiter bis nach Palästina, blieb ich zurückhaltend. Denn, früher oder später, würde ich ihn verlieren! Nächstes Jahr in Jerusalem , hatte er mir versichert. Mochte er dabei auch die Achseln gezuckt und beschwichtigend gelächelt haben, mir war klar, er meinte es ernst. Und als er dann eines Tages fehlte, mir ungeheuer fehlte, quälte mich die Befürchtung, seine Flucht könnte misslingen – und ich atmete erst auf, als mich endlich eine Bildpostkarte aus Eindhoven erreichte: Chasak, Schalom, Dein Chaim . Hatte er es bis nach Holland geschafft, würde er es auch bis Jerusalem schaffen – Chaim war auf dem Weg, seinem Weg, und das erleichterte mich sehr, besonders als mir nur wenige Wochen später klar wurde, dass er durch die Flucht seiner Verschleppung entgangen war. Denn wo waren sie plötzlich alle: Heinz Bialik, Itzig Perlson, Manne Spaski, Channele Bernstein und die anderen? Es fehlten an jenem Oktobermorgen sieben Schüler meiner Klasse, und alle waren sie polnischer Herkunft. Und so sehr bangte ich um Miriam Bronski und ihre Eltern, dass ich mich sofort vom Unterricht befreien ließ und nach Duisburg zurückfuhr. Die Tür zur Wohnung der Bronskis hing in den Angeln, kein Glöckchen läutete, als ich eintrat, und in der Schusterwerkstatt beim Fenster stand leer der Schemel. Das Werkzeug lag aufgereiht, und abholbereit auf den Regalen das geflickte Schuhwerk. In der Wohnung war der Tisch geräumt, der Boden gefegt, der siebenarmige Leuchter auf dem Schrank abgestellt … da war ich mir auch über das Schicksal der Bronskis klar. In Miriams Schlafstube fand ich eines ihrer Kleider ausgebreitet überm Bett, doch nirgends eine Nachricht für mich. Mir war, als hätte es uns zwei nie gegeben, nie unsere Ausflüge an die Ufer des Rheins, wo wir den Schleppern nachgeblickt hatten, die auf dem Weg nach Holland waren … Und als ich die Wohnung verließ und die Haustür wieder in die Angeln zu heben versuchte, schlug leise wie zum Abschied das Glöckchen an.
Es war drei Uhr morgens, als Dr. Ruben das Haus verließ. Die Prinz-Albrecht-Straße war still und dunkel, Regen fiel, und der Wind pfiff durch die herbstkahlen Bäume. Ecke Kaiser-Wilhelm-Straße sah er ein parkendes Taxi, und er lief schneller, um es zu erreichen. Der Taxifahrer nickte müde, nachdem er das Ziel vernommen hatte. Der Mann fror, war übernächtigt und warf Dr. Ruben kaum einen Blick zu. Als sie am Hauptbahnhof ankamen, versperrten ihnen Polizisten den Weg. Der Fahrer schraubte das Fenster herunter und fragte: »Was ist denn hier los?«
»Geht Sie nichts an. Bis sechs bleibt die Auffahrt gesperrt!«
Dr. Ruben zahlte und stieg aus. Das Taxi wendete sofort und fuhr rasch weg. Der junge Polizist konnte mit Dr. Rubens Papieren nichts anfangen und gab sie an einen Vorgesetzten weiter. Der prüfte den Inhalt und ließ ihn passieren, dann wandte er sich um und sagte achselzuckend: »Weit kommt der nicht damit, das wird er schon merken!«
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