könne schreiben. »Und überhaupt – als ob du sonst keinen Schatz an Erfahrungen hättest.« Er erinnerte an mein Schicksal in Nazideutschland und an das weit tragischere meiner Eltern. »Und wie deine Erzählung
Die einfachen Dinge ahnen lässt, wirst du schon als Junge etwas vom Widerstand gegen Hitler mitbekommen haben. Mach einen Roman draus. Um
den schreiben zu können, würde
ich an deiner Stelle Gott weiß wie lang Hochzeiten ablichten …« Er nannte keine Regeln außer einer: Fleiß! Bücher zum Thema Nazideutschland lesen, in der Bibliothek Zeitungen wälzen, sich in die Zeit vertiefen, Erinnerungen skizzieren – vor allem aber eine Fabel entwickeln, die den Handlungsablauf und die Auswahl der Personen bestimmen würde. In meine Kladde zeichnete ich einen Bogen, den ich in neun Abschnitte unterteilte: 1930 bis 1939, hielt anhand eines Stadtplans örtliche Besonderheiten von Duisburg fest, den Stadtwald, die Flüsse Rhein und Ruhr, den Hafen, wirklich voran aber kam ich erst, als die Fabel stand. Eine innere Erregung stellte sich ein, ich war zum Schreiben gezwungen, arbeitete zuweilen wie im Rausch, aus dem Unterbewusstsein stiegen Bilder in mir auf, formten sich Dialoge, Begebenheiten, die nüchterne Überlegungen niemals gezeitigt hätten. Unterm bläulichen Schein der Leselampe, in der Stille des Besuchersaals der Melbourner Stadtbibliothek, schrieb ich Seite um Seite, die später mit der Maschine ins Reine zu bringen waren. Und je mehr ich über den Widerstand gegen Hitler erfuhr, je mehr wuchs meine Hochachtung für den Opfermut jener Männer und Frauen. Ich erfand eine Zelle des Widerstands – Gerhart Winkel, Hilde Lipps, Erwin Schmitz, Papa Müller, Lutz Sorgenfrey, alles Arbeiter, und versuchte sie ins Umfeld einer wohlhabenden jüdischen Familie zu bringen, meiner eigenen in Wahrheit, die im Zentrum meines Romans stand. Ich besprach mich mit David Martin, ließ ihn die Fabel bewerten, auch so manchen geschriebenen Abschnitt – und als er sich eines Tages erbot, für mich zu bürgen, sollte ich der Kommunistischen Partei Australiens beitreten wollen, erstaunte mich daran nur, wie er hatte ahnen können, dass mich meine Beschäftigung mit dem Widerstand deutscher Kommunisten dem Gedanken schon nahgebracht hatte. Noch heute sehe ich David Martin, wie er mich, das Kinn mit dem struppigen roten Bart auf die Faust gestützt, durch dicke Brillengläser musterte, leicht schielend dabei und mit einem koboldhaften, irgendwie verschmitzten Lächeln. »Wäre doch an der Zeit«, höre ich ihn sagen, und mich antworten: »Könnte sein«, und gleichzeitig beschließen: erst diesen Berg bezwingen, den Roman vollenden – alles Weitere wird sich finden … Bald jagte ich zum Verdruss meines Arbeitgebers Josef Herz nur noch an Wochenenden den Hochzeiten nach, weit weniger verdienend als zuvor, und als der Roman
Voices in the Storm geschrieben und in Zusammenarbeit mit der Realist Writers’ Group in der Australasian Book Society erschienen war, kündigte ich – auf Zeit. Zuhause legte ich wortlos, doch innerlich erregt, das Buch vor Barbara auf den Tisch. Sie schlug es auf, und errötete, als sie die Widmung las. »Ich bin so glücklich für dich.« Ihre Freude brachte mich ihr auf neue Art nah. »Das werden wir feiern – hörst du«, sagte ich. »Aber ja!«, rief sie, und es entsprach ihrem Wesen, es nicht in Gesellschaft tun zu wollen. »Lass mich das machen – es wird ein Fest für uns zwei.«
Die Australasian Book Society hatte die Unterstützung der Gewerkschaften – und so kam es, dass ich zunächst in Melbourne, später in Sydney und in Brisbane auf Lunch Time Meetings in Fabriken, im Hafen und auf Schiffen für den Roman und die Society warb. Ich kam der Arbeitswelt näher denn je in meinem Leben und ich begriff, es waren Linke, oft Kommunisten, die diese Treffen vorbereiteten, mich einführten, zu Diskussionen aufriefen, den Vorträgen den Rahmen gaben. Ich war ihnen verbunden und tat mein Bestes – trug Abschnitte aus dem Roman vor, die hier den größten Sinn machten: über den Widerstand gegen Hitler von Eisenbahnern, Bauarbeitern, Fabrikarbeitern, Schauerleuten im Duisburger Hafen, von Rhein- und Ruhrschiffern, und Schilderungen, wie eine kommunistische Zelle unter tödlicher Gefahr Widerstand leistete. War meine Zeit begrenzt, sprach ich frei und mich erstaunte, was sich alles in wenigen Minuten sagen und bewirken ließ. Die Arbeiter kauften den Roman vom Fleck weg und schrieben sich zahlreich in den Buchklub ein. Es waren aufregende Wochen und ich fragte mich, was mich noch bei Elite Photos hielt. Die Entscheidung fiel nach einer Lesung vor Seeleuten und Schauerleuten auf dem Frachter Dubbo. Auch dieses Meeting hatte kurz zu sein – eine Viertelstunde und nicht länger, und wieder sprach ich frei, blieb aufs Wesentliche konzentriert und machte wohl genügend Eindruck, dass Ted Bull, der Obmann der Hafenarbeiter, ein hochgewachsener Mann mit störrischem braunem Haar, eine geschlagene Stunde mit mir redete. Er wollte wissen, wie ich geldlich klarkam, setzte voraus, dass ich vom Erlös meiner Bücher kaum leben konnte, und schlug vor, mich an den Melbourne Harbour Trust zu vermitteln. »Decksmann auf einem Schleppkahn – leichte Arbeit, viel Zeit zum Nachdenken. Und gutes Geld. Über die Partei kriegen wir das hin.« Er stutzte, als ich ihm sagte, ich sei nicht in der Partei. »Bei dem Roman – mit all dem Widerstand deutscher Kommunisten.« Er wiegte den Kopf, ging dann aber seiner Wege. »Überlege dir das mit dem Harbour Trust«, sagte er noch, »und lass von dir hören.«
Das tat ich sehr bald und gelangte so an Bill Bird, den Gewerkschaftsführer der Seeleute, einen markanten, gut aussehenden Mann mit kurz gestutztem grauen Haar und stahlblauen Augen, die prüfend blickten. »Den Wechsel vom Schreibtisch zum Hafen – trauen Sie sich den zu?« »Was läge an?«, fragte ich, und er zählte es auf. »Beim Bagger festmachen, ablegen, weit draußen im Meer den Schlamm ablassen – per Schwungrad. Was Kraft kostet.« Dann sagte er: »Ein Genosse mehr beim Harbour Trust – wäre gut.« »Bin ich nicht«, erklärte ich ihm, »hat Ihnen Ted Bull das nicht gesagt?« Bill Bird lachte. »Muss ja nicht so bleiben – nach dem, was ich von Ihnen weiß.« Er reichte mir die Hand. »Wenn Sie wollen, mach ich’s klar da unten im Hafen in Williamstown – ab Montag könnte es losgehen. Und nach ein paar Monaten dann – die große Fahrt, rund um Australien, Japan, New Zealand. Wohin auch immer!«
Nach meiner Melbourne-Harbour-Trust-Zeit heuerte ich auf Schiffen mit Namen Dubbo, Aeon, Iron Monarch, River Fitzroy und Fiona an, fünf Frachter an der Zahl in knapp zwei Jahren, in denen wir die Häfen Yokohama, Wollongong, Newcastle, Brisbane, Rockhampton, Launceston und Suva auf Fidschi anliefen. Mal fuhr ich als Decksmann, mal als Kohlentrimmer, und auf der River Fitzroy als Mannschaftssteward, ein Posten, den ich schon in Brisbane abschüttelte, indem ich mich krank meldete. Auf der schrottreifen Aeon und der alten Fiona karrte ich für die Heizer Kohle aus den Bunkern, Knochenarbeit, die nur den einen Vorteil hatte, dass für die Männer aus dem Kesselraum im Hafen weit mehr Freizeit blieb als für die restliche Crew – was wiederum gut für mein Schreiben war. Meine Erzählung Midnight Sailing – es ging um Auseinandersetzungen zwischen Mannschaft und Schiffsleitung – löste heftige Debatten an Australiens Küsten aus, und Call of the Islands hatte nicht nur in Australien Widerhall, sondern unter dem Titel Ruf der Inseln auch in Deutschland und anderen Ländern … Von meinen Schiffsgefährten kommen mir als erste Mick Moran und Bill Hansen in den Sinn. Dem jungen Iren verdankte ich Rückhalt in so mancher Hafenkneipe und der Hüne aus Schweden nahm mich im Kesselraum unter seine Fittiche, bis ich mich eingearbeitet hatte. Und dass ich in Brisbane meinen Posten als Mannschaftssteward schmiss, hatte nicht nur damit zu tun, dass mir die Arbeit zuwider war, mir war auch der hinterhältige zweite Stewart Sam Silvers widerwärtig. Curly Connors und Jim Bates dagegen mochte ich von Anbeginn, ein denkbar ungleiches Paar, der eine wild, der andere sanft – beide waren tüchtige Heizer, die mit einem Minimum an Kohle die Kessel unter Druck halten konnten – was ich zu schätzen wusste, nicht zuletzt auch, weil ich dadurch weniger Asche abzufüllen und an Deck zu hieven hatte: »Good on you, Curly and Jim!«, rufe ich ihnen noch heute im Geiste zu, und sehe sie die Daumen hochstrecken und grinsen …
Читать дальше