Absence makes the heart grow fonder – ein zweifelhafter Spruch. Für mich machte er Sinn. Von meiner Frau Barbara getrennt, hatte ich oft Sehnsucht nach ihr, schrieb an Bord lange Briefe und erwartete in den Häfen Post von ihr. Mich beruhigte die Gewissheit, dass es mir an einem Zuhause nie fehlen würde – klaglos war sie mir in Melbourne von Parkville nach Albert Park in ein kleines Apartment gegenüber den St. Vincent Gardens gefolgt, und schweren Herzens, doch ebenso klaglos, nach Sydney, wo sie für uns zwei Zimmer mit Aussicht auf die Hafenbrücke eingerichtet und sich später auf die Suche nach einer neuen Stelle gemacht hatte, die sie schließlich in der Redaktion der Tribune fand. Kurzum, das Wissen um eine Zuflucht machte mir die Plackerei auf den Schiffen erträglich, ließ mich die jeweils sechs Monate durchhalten, zu denen ich mich beim Anheuern verpflichten musste – Zeitspannen, die nur ein Unfall oder eine Krankheit verkürzen konnten. Sechs mal vier Wochen: das waren lange Abwesenheiten, und wer glaubt, ein Seemann habe in jedem Hafen eine Braut, irrt gewaltig. Er hat Kneipen in jedem Hafen, und verdammt großes Glück, wenn ihm in einer davon eine Barfrau zugetan ist – wie es bei Slim Munro der Fall war, der bei jedem Landgang in Wollongong seiner Jean eine rote Rose auf den Tresen legte. Uns anderen erwarteten nur die käuflichen Frauen … So war das an Australiens Küsten. Fast alle Seeleute, die ich kannte, zählten die Tage und Wochen, bis ihr Schiff wieder im Heimathafen einlief. Und weder in Yokohama noch Wollongong, Newcastle, Brisbane oder Rockhampton hießen mich Frauen willkommen, die ihre Liebe verschenkten …
Darling Walter , schreibt Barbara per Adr. MS Dubbo in Newcastle, bald wirst Du wieder bei mir sein. Ich vermisse Dich sehr, lasse mir aber die Zeit nicht lang werden. Denk bloß, seit voriger Woche helfe ich abends im New Theater bei Waiting for Lefty aus – diesem guten Stück von Clifford Odets über Arbeiter im Streik. Von der Tribune-Redaktion gehe ich gar nicht erst in unsere ach so leere Wohnung, sondern gleich hinter die Bühne zur Garderobe – und siehe da, Deine Barbara ist so flink mit der Nadel, dass alle Aufregung sich augenblicklich legt, wenn mal ein Kostüm nicht passt, eine Hose zu lang ist, eine Jacke zu weit. Auch ansonsten gehe ich zur Hand – bis der Vorhang hochgeht, wird überall nach mir gerufen. Gebraucht zu werden tut gut – und dass Du mich brauchst, das hoffe ich, denn ich liebe Dich … always, Your Babsy
Wir hatten befürchtet, es nicht zu schaffen. Die Winde aber waren mit uns und die Dubbo machte schon gegen acht Uhr morgens im Hafen von Sydney fest. Eine Stunde später gingen wir geschlossen von Bord, vierzehn Mann, geschniegelt und gebügelt, und folgten unserem Bootsmann Lou Armstrong – der hatte dem Ersten kurz Bescheid gegeben, dass ein Matrose als Wachmann zur Verfügung stand, sich aber auf keine Diskussion eingelassen, und weg waren wir. Die Offiziere, auch Kapitän Wells, sahen uns mit steinernen Minen nach, rührten sich aber nicht. Es war ein kühler sonniger Morgen im Herbst des Jahres 1954, das weiß ich noch, nicht aber wie der Weg vom Hafen zum Gerichtsgebäude verlief – auf den hatte ich nicht zu achten, den kannte Armstrong, und ich fühlte mich gut unter den Männern, zu denen ich gehörte, seit ich nicht mehr beim Harbour Trust war. Welch ein Unterschied – Decksmann auf einem namenlosen Schleppkahn oder Decksmann auf einem schmucken Fünfhunderttonner. Der Crew auf der Dubbo war ich seit dem Lunch Time Meeting an Bord kein Fremder gewesen, sie hatten meinen Roman Voices in the Storm in der Schiffsbibliothek und mich schon nach kurzer Zeit angenommen – einer, der schreibt, sich aber nicht zu schade ist, das Deck zu schrubben, Rost zu klopfen, Aufbauten zu streichen, und am Ruder auf der Brücke den Kurs zu halten. Beim Harbour Trust hatte ich nichts dergleichen zu tun gehabt, und die vermeintliche Knochenarbeit mit dem Schwungrad war zu schaffen gewesen – bloß, recht eigentlich unter Seeleuten war ich auf dem Schleppkahn nie, im Grunde waren es einsame Monate, denn der zweite Decksmann mit Namen Pit, den alle Pity riefen, war ein spindeldürres Kerlchen von fünfzig, maulfaul und mürrisch. Zeit zum Nachdenken übers Schreiben hatte ich eine Menge, denn die Fahrten vom Bagger ins offene Meer waren lang. Es war ein Dasein an frischer Luft, doch alles andere als gesellig – zugehörig fühlte ich mich erst, seit ich auf der Dubbo fuhr. Und heute, im frischen Herbstwind auf dem Weg zum Gericht, gab es mir Auftrieb, als Mann unter Männern zu sein – gewienertes Schuhwerk, gebügelte Hose, frisches weißes Hemd, und im Revers der Jacke das kleine golden wheel der australischen Seeleutegewerkschaft. Wir waren früh vor Ort und unter den ersten, die ins Gerichtsgebäude gelangten. Nicht viel später war der Zuschauerraum bis auf den letzten Platz belegt, drängten sich an die fünfzig Seeleute auf den Bänken und reckten die Hälse. Um zehn Uhr genau betraten die Richter der Royal Commission den Saal und die Anhörung Bill Birds, den ein abtrünniger Diplomat der sowjetischen Botschaft namens Petrow bei den australischen Behörden der Spionage für Moskau bezichtigt hatte, begann. Er wurde in den Zeugenstand gerufen, wir sahen ihn vor den Schranken stehen, hörten ihn den Richtern seinen Namen sagen und bestätigen, er leite die Seeleutegewerkschaft von Victoria. Von den Fragen, die folgten, beantwortete er aber nur eine: »Waren Sie und sind Sie noch Mitglied der Kommunistischen Partei Australiens?« Er dehnte die Schultern, dass sein Anzug sich straffte, und sagte: »Yes.« Was dem Vorsitzenden nicht passte, der wollte mit »Your Honour« angesprochen werden. Bill Bird setzte neu an. »Yes, Your Honour – and proud of it!« hörten wir ihn sagen und dann verstummte er. Wann und wo er dem Zeugen Petrow begegnet, wann und wie oft er in der Sowjetunion gewesen, wie und mit wem er dorthin gereist sei, welche Auskünfte er in Moskau erteilt und was für Unterlagen er dort überreicht hätte – Bill Bird verweigerte die Aussage. Bis es dem Vorsitzenden reichte und er anordnete, ihn festzunehmen. Die Reaktion im Zuschauerraum war hart und plötzlich. Die Seeleute sprangen auf, durchbrachen die Schranken, hoben Bill Bird aus dem Zeugenstand und trugen ihn auf den Schultern aus dem Gebäude. Weder Gerichtsdiener noch Wachmänner wagten einzugreifen, sie wagten sich auch nicht auf die Straße, wo laut durch ein Sprachrohr zu hören war, dass auch nicht ein Schiff den Hafen von Sydney verlassen würde, sollte Bill Bird verhaftet werden. »Hands off Bill Bird!« Ich sah ihn zwischen den Männern stehen, sah ihn die Hände zu einem Trichter formen, doch was er rief, ging unter im Stimmengewirr – es erklärte sich, als es durch das Sprachrohr schallte: »All hands to the Domain«, und sich alle in Bewegung setzten, um Bill Bird wie ein Mann in die Innenstadt zu folgen, wo auf dem Gelände im Park ein Stop-Work-Meeting angesetzt war – mein erstes, aber nicht das letzte, das ich als australischer Seemann erlebte.
Erst in den frühesten Morgenstunden dieser feuchtkalten Dezembernacht des Jahres 2008 gelangte ich in meine Stadtwohnung am Märkischen Ufer zurück. Das war nach einem Konzert im Kesselhaus der Berliner Kulturbrauerei. Standing room only , und keiner der jungen Leute trat den Heimweg an, ehe das letzte von Hans-Eckardt Wenzels aufwiegelnden Liedern aus Zorn und Liebe verklungen war. Es war gut, dabei gewesen zu sein, und ich schlief fest in der Nacht bis in den Morgen – da aber überfiel mich ein Albtraum: Ich starrte dem Strudel der Schraube hinterm Heck des australischen Frachters Aeon nach, sah, wie sich das Schiff weiter und weiter entfernte. Panik überkam mich, ich schrie und meine Schreie verhallten überm Wasser, und dann sackte ich auf dem Kai zusammen und verstummte – wo war ich, in welchem Hafen? Im Albtraum hatte mir Alan Oliver, der baumlange Bootsmann, von achtern her eine Leine zuwerfen wollen, der Wurf verfehlte mich um viele Meter, war eher Hohn als Hilfe. In Australien war Alan Oliver nie einer meiner Schiffsgefährten gewesen, erst Jahre später, in Rostock, heuerten wir auf dem gleichen Schiff an … Ich zwang mich aufzuwachen, riss mich aus dem Schlaf, jetzt mit allen Sinnen wach, musste ich an jene Willensübertragung denken, die mir den Posten auf der Fiona eingebracht hatte – bei der Musterung hatte ich den Schiffsoffizier so intensiv ins Visier genommen, dass er stutzte, vor mir anhielt und keinen der anderen zwölf Bewerber in Betracht zog. Und tatsächlich, die Reise auf der Fiona zu den Fidschiinseln war für mich die Erfüllung eines Traums. Gauguin, Jack London – und was ich damals an Bord in die schwarze Kladde schrieb, die mein Talisman war, hat bis heute Bedeutung für mich:
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