Mit wem war ich da mit knapp zwanzig Jahren mein Leben zu teilen bereit – einer mütterlichen Freundin, einer liebevollen Gefährtin, einer erfahrenen Frau, die mir Geborgenheit bot? Jedenfalls kehrte ich zur Einheit mit dem Entschluss zurück, Barbara zu heiraten. Sie hatte in kürzester Zeit aus dem Zimmer in Parkville ein wohnliches Zuhause gemacht, indem sie die Möbel neu verteilte, Tisch und Stühle dorthin, den Sessel ans französische Fenster, sie das Deckenlicht zugunsten einer Stehlampe wegnahm und den Teppich so über die Dielen legte, dass deren schadhafte Stellen verdeckt waren. Gemeinsam hatten wir das alte Eisenbett eine halbe Treppe tiefer in eine Stube getragen, die gerade zum Schlafen reichte – und hatten so, mit Mrs. O’Shamus’ Zustimmung, zwei Räume zur Verfügung, wobei der größere jetzt wie ein Wohnzimmer wirkte – und vorstellbar war, dass Bilder, Bücher und das eine oder andere Erinnerungsstück dem Zimmer eine noch persönlichere Note geben würden. »Du wirst sehen«, sagte Barbara, »beim nächsten Urlaub …« Wie verwandelt war sie, seit wir hier eingezogen waren – ihre Entlassung aus der Armee schien sie kaum noch zu tangieren. »Alles fügt sich«, sagte sie, »und ja, Mrs. O’Shamus könnte nicht zuvorkommender sein, doch dürfen wir das nicht ausnutzen.« Vergeblich versuchte ich Barbara klarzumachen, dass Mrs. O’Shamus nichts so sehr wünschte, wie uns nützlich zu sein. Doch gerade das verweigerte Barbara ihr – und als Mrs. O’Shamus am Abend eines meiner Wochenendurlaube anklopfte, um nachzufragen, ob wir irgendwelche Wünsche hätten, bekam sie freundlich zu hören: »Nein, danke, Mrs. O’Shamus, uns fehlt nichts« – worauf sie sich nicht wieder meldete …
Barbara schrieb mir weit häufiger als ich ihr. Kaum eine Postverteilung verging, ohne einen Brief von ihr – die Wohnung mache sich gut, über die Küchenbenutzung sei sie mit Mrs. O’Shamus im Einvernehmen, ohnehin ginge sie ja jetzt früh zur Arbeit und käme spät wieder. Mir schien, als hätte sie die Stelle bei Robertson & Mullens, Melbournes größter Buchhandlung, nur mir zuliebe angetreten – von nun an, schrieb sie, könne sie mir günstig Bücher schicken, Romane, Erzählungen, Stücke, »was immer du dir wünschst«. Schon damals sah sie mich als Schriftsteller: »Du hast so viel erlebt, kannst gut erzählen – do it in writing .« Und als ich tatsächlich mit der Erzählung The Simple Things den begehrten Literaturpreis des Melbourner New Theatre gewann, fühlte sie sich bestätigt. »Wie mein Herz pochte, als ich in der Zeitung deinen Namen las. Ich war so stolz auf dich – und wollte mehr denn je deine Frau werden. Willst du mich wirklich immer noch heiraten? Bedenke, ich bin um Jahre älter als du.« Ja doch, beeilte ich mich, ihr zu versichern, nach wie vor wolle ich sie heiraten, die Vorbereitungen hätten sich nur verzögert, weil unsere Einheit verlegt werden sollte. Was dann aber nicht passierte – so sei also der letzte Samstag des kommenden Monats für die Trauung in Tocumwal festgesetzt. Einen Sonderurlaub würde mir Leutnant Murray kein zweites Mal gewähren, sicher aber ein freies Wochenende … Und so traten Barbara und ich an jenem sonnigen Samstag im Herbst 1944 vor den Altar der kleinen presbyterianischen Kirche.
November 1938, Stadt Duisburg im Rheinland:
Unser Haus mit der steinernen Treppe vor der Eingangstür – das Schloss gesprengt, die Tür eingeschlagen, sie hängt lose in den Angeln; neben der Tür die elektrische Klingel – aus der Wand gerissen, an zwei Drähten baumelnd. Käte ist nicht mehr bei uns – das Gesetz verbot uns eine Hausangestellte. Die schwingenden Glastüren im Flur – in Scherben, die Glassplitter auf den Teppichen knirschen unter den Füßen. Vaters Arbeitszimmer und die Bibliothek – ein wüstes Durcheinander von zerstörten Möbeln; die Bücherregale mit den Glasscheiben umgekippt, juristische Werke und Romane auf den Boden geworfen. »Der Zauberberg«, »Krieg und Frieden«, die »Deutsche Justiz« mit zerrissenen Einbänden in die Ecke geschleudert. Mutters Biedermeierzimmer – überall das gleiche Bild: alles in Trümmern, die Porzellansammlung ein Scherbenhaufen, die Landschaftsaquarelle mit Messern zerschnitten. Unten im Garten, in einem Blumenbeet, lag der Flügel wie eine große, hilflose Schildkröte auf dem Rücken. Die breiten Fenster waren eingeschlagen, die Rahmen herausgerissen.
Ich schreibe dies nieder wie einen bösen Traum, doch ohne Erregung jetzt, berichte von den Schrecken, die über uns kamen, plötzlich, auf Befehl, und mit einer so blinden Wut, dass es die ganze Zeit unwirklich schien. Viel Hass war in jenen Jahren gesät worden, sehr viel Hass, der an diesem Tage ungehindert tobte. Und dennoch habe ich Hoffnung.
Sturmabteilungen brechen mit Gewalt in ein Haus ein, trampeln alles nieder, demolieren, was ihnen in den Weg kommt, schlagen alles in Stücke, verhaften – das war eine Ordnung, die wir zerstören. Ja, wir zerstören sie: in unserem Herzen, in unserem Geist, jeder Einzelne von uns, zerstören sie durch unsere Art, zu leben, zu denken und zu handeln.
Vielleicht wurde meine Hoffnung an diesem Tag geboren, an diesem Novembertag in jenem Jahr. Ich habe die Hoffnung genährt, und sie ist größer geworden.
Es war ein langer Tag. Es war ein furchtbarer, ein grausamer Tag. Unser Volk, das jüdische Volk, wurde erniedrigt, verwundet und versprengt. Es dauerte lange, bis der Abend kam. Bei uns zu Haus gab es keine Tränen. Wir waren wie versteinert, vielleicht waren wir auch zu stolz für Tränen. Unsere Gedanken weilten beim Vater, der am Morgen verhaftet worden war, und wir beteten für ihn.
Dann, in der Nacht, kam ein Mann in unser Haus. Er ging durch die verwüsteten Zimmer, er sah alles und er war eine lange Zeit stumm. Er legte mir die Hand auf die Schultern und sagte: »Das währt nicht ewig.«
Zu Mutter sagte er: »Ich finde keine Worte für diese Schande.«
Er nahm einen zerbrochenen Tisch und einen Stuhl, trug beides hinaus und lud es auf einen Handwagen, mit dem er ins Dunkel der Nacht verschwand.
Der Mann war Tischler. Und Georgs Vater. 6
In meiner Erinnerung sind die Vorbereitungen zur Trauung nur teilweise aufgehoben – wie war ich damals mit dem Pfarrer über die Trauung übereingekommen, wie kam es, dass er unseren Altersunterschied nie angesprochen hatte, wer war es, der sich neben meinem Freund Albert als zweiter Trauzeuge angeboten hatte, und wo in diesem Tocumwal, das eigentlich nur ein Eisenbahnknotenpunkt war, waren Barbara und ich zwei Nächte lang untergekommen? Sie selbst aber sehe ich deutlich vor mir – schlichtvornehm im hellgrauen Kostüm und mit einer Feder im Hütchen. Und wie sie nachsichtig über meine Ungeschicklichkeit, als ich ihr den Ehering überstreifte, lächelte, und natürlich bleibt mir der festlich gedeckte Tisch im großen Zelt der Armeeeinheit vor Augen, sehe ich unseren Koch, Sergeant Schmolka aus Wien, mit einladender Geste Suppe und Hammelbraten auftischen, und wie er nach dem Gelage Barbara half, die riesige Torte zu zerteilen. Von den Festreden und Trinksprüchen erinnere ich nur, dass sie sämtlich rau, aber herzlich waren, während alldieweil Bier und Wein floss. Von irgendwoher im Zelt rief jemand, »You’ll be sorry!«, Das wirst du bereuen – und da das in Australien bei fast jeder Hochzeit anklingt, rieb ich mich nicht daran, wohl aber dass uns irgendeiner nur zehn Ehejahre voraussagen wollte, weil ich da ja erst dreißig werden würde. – »Und wie alt ist dann die Braut?« Taktlos, der Kerl! Zum Teufel mit ihm. Ich liebte Barbara, glaubte an unsere Liebe, und war ihr dankbar, dass sie für mich da war. Und dann begannen sie alle aus voller Kehle »For they are jolly good fellows« zu singen, und froh gestimmt wurde noch einmal rundum mit uns angestoßen. Barbara strahlte …
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