Veit ist gegen die Wiedervereinigung, er war es von Anfang an. Heute, ein knappes Jahr nach dem Vollzug der Einheit, jammern alle über die Folgen, aber die Sache selbst mag kaum einer ungeschehen machen, auch nicht in Worten, als Wunsch. Veit hat diesen Mut. Er findet, die DDR hätte um ihren Fortbestand kämpfen müssen, anstatt bedingungslos zu kapitulieren. Ich verstehe seine Gründe. Er kommt aus dem Pfälzischen, hat das Land, in dem er erzogen wurde, nie recht gemocht und sich eingebildet, die kleine mundtote DDR sei tieferer Sympathien würdig. Unsere Debatten über diesen Irrtum haben des öfteren den Tag versinken und wieder aufgrauen sehen, ohne dass er seinen Wahn und ich meine subjektive Perspektive, wie er das nennt, aufgegeben hätte.
»Die Leute drüben waren vor ’89 nicht besser, Alter«, murmele ich rechthaberisch. »Das glaub man nicht. Die hatten bloß Schiss.«
Veit aber ist überzeugt von den Charakter verderbenden Auswirkungen des DM-Imperialismus, schwenkt dann über auf die Arbeitslosenversicherung und endet bei seinem Kleinkrieg mit dem Weddinger Finanzamt, das von ihm verlangt, er möge seine Tipp-Honorare versteuern, obwohl er das doch nebenbei und illegal macht, um die Stütze nicht zu verlieren. Sein eigener Charakter, bekennt er zwischen zwei Hustenattacken, sei im Begriff, durch Mangel an D-Mark korrumpiert zu werden.
»Scheißsystem«, sagt er durch die Nase. »Es macht uns alle zu Mammon-Jüngern, wir vergeuden unsere besten Kräfte auf der Jagd nach dem Erfolg, und nichts bleibt übrig für die Menschlichkeit.«
»Ich jage nicht nach Erfolg«, versetze ich, »sondern nach dem Schicksal der Menschen. Ich möchte wissen, was in ihrem Innern schlummert.«
»Das kann ich dir sagen: ein Scheißdreck. Aber warum bist du eigentlich gekommen?«
»Ich wollt dich zu Bella mitnehmen. Wenn Malte da ist, zocken wir.«
Er zögert. Dann legt er sich die Hand auf die Brust und zieht die Mundwinkel weit runter:
»Du siehst ja selbst, ich muss ins Bett. Janett lässt da nicht mit sich spaßen.«
Und er bittet mich, zwei Briefe für ihn in den Kasten zu werfen.
»Sonst klingelt mich die Sau wieder aus’m Bett«, womit er das Finanzamt meint, genauer eine Sachbearbeiterin mit Namen Schuller, von der er annimmt, sie komme aus dem Osten.
»Reines Sächsisch«, vermerkt er kennerisch. »Warum bloß stellt ein Westberliner Finanzamt Leute ein, die keine Ahnung haben?«.
Als ich mich zum Gehen wende, fragt er mich nach Sonja. dass er meine Freundin bei ihrem Vornamen nennt, berührt mich unangenehm, denn ich kann mich nicht revanchieren. Den Namen Janett brächte ich nie über die Lippen, um keinen Preis. Das schiene mir zu vertraulich bei so einer blöden Person. Sie beim Namen nennen hieße, ihre Tonlage akzeptieren. Ich sollte Veit mal stecken, dass sie nichts für ihn ist. Aber da er krank ist und ich ihn schonen will, sage ich nicht:
»Wie hältst du bloß die Hippe aus?«, sondern: »Sonja geht’s gut.«
»Wann heiratet ihr?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht nächstes Jahr.«
»Warum so spät? Hat sie ’n andern?« Der Gedanke ist mir unsympathisch. Ich nehme das gerührt zur Kenntnis, schlussfolgernd, dass meine Liebe zu Sonja lebt und loht wie eh und je, den Reizen einer gewissen Kassiererin zum Trotz.
»Ich glaube nicht, dass sie ’n andern hat.«
»Hast du sie gefragt?«
»Warum soll ich sie auf Ideen bringen?«
»Auch wieder wahr. - So, und jetzt träufeln. Zehn Tropfen. Schön lange im Mund lassen.«
Das Zeug schmeckt wie schales Bier. Veit zuliebe behalte ich es drin, ziehe stumm ab und spucke die Dosis diskret neben die Fußmatte. Denn ich bin gottlob nicht anfällig.
☆
Ein stilles Wunder: die Sterne. Sie machen mich immer verrückt. Der Mensch ist ein vorkopernikanisches Geschöpf und nicht dazu begabt, astronomische Maße und Gewichte in seiner Vorstellungskraft unterzubringen. Vermutlich sind Computer diejenigen unter den dienstbaren Geistern des technischen Zeitalters, die eine solche Leistung erbringen können. Für die Simulation des Flugs ins All jedenfalls taugen sie unbedingt. Hauptsache, ich muss es nicht machen. So, und nun rein mit euch in die gelbe Box, zuerst du, Liebesbrief an Frau Schuller, Wedding, und dann du, Werbeantwort an die Firma Rotermund, Steglitz, Antik-Möbel, Ankauf und Restauration.
Ich sah mal einen Meteor über den Nachthimmel ziehen. Vielleicht war es auch ein Sputnik. Ich sage mal: ein Meteor. Denn das Ding wurde größer in der Nähe des Horizontes, den ich es nur nicht mehr erreichen sah, weil meine Freunde, die Häuser, sich davor drängten, und wie üblich gleich wieder in Massen. Ich nannte das Gestirn »Igor Eins« und suchte eine Zeit lang verstohlen in Marzahn-Bürknersfelde nach seinen Bruchstücken im Erdenschoß. Offen gestanden suche ich noch immer. Ich spähe die Rinnsteine rauf und runter und schnüffele in der Luft nach schwefeligen Anteilen als Hinweis auf das weitgereiste Steinstück. Von wegen: suchet, so werdet ihr finden. Finden tut man schon, alles mögliche, aber es ist nie das, was man gesucht hat. Schließlich nimmt man vorlieb. In Marzahn fand ich eine Lesebrille ohne Bügel und zwei ungarische Kleinmünzen, und heute Abend, mitten im eindunkelnden Moabit, ist es ein Gutschein für den Friedrichstadt-Palast.
☆
Hier stehe ich mit dem Gutschein in den Fingern, und eh ich mich’s versehe, ist es mein Dasein, das ich halte, mit beiden Händen, wie ein Stück Papier. Es ist am Dasein des Igor Marenge, der im Licht einer Moabiter Straßenlaterne einen Gutschein entziffert, nichts Besonderes, außer dass es meine Existenz ist, die sich hier unter blassen Sternen ihrer Anwartschaft auf Größeres bewusst wird. Sie wünscht sich die glückliche Stunde, Kairos, Erfüllung im Morgengrauen, das Mädchen vom Minipreis und - ja, ein Pud grauen Pulvers. Aber sie kriegt nur einen Gutschein für den Friedrichstadt-Palast, ein Unter-der-Laterne-Stehen, ein angelegentliches Erblicken von Sternschnuppen und ein Bier bei Bella. Sie gibt sich damit nicht zufrieden, sie verachtet solche Kinkerlitzchen, sie will die spannenden Verwicklungen und die unmöglichen Komplikationen, wenn schon nicht als Hauptdarsteller, dann doch als akkreditierter Beobachter.
Ach, hätte ich das graue Pulver auf der Hand, was für Einsichten könnt ich daraus kochen! Ja, lach, du nur, du frischgebackener Opel-Fahrer aus Finsterwalde, du bist von derselben Sucht nach Bedeutung und großer Form geplagt wie ich, und wenn du es abstreitest, dann nur, weil du betrunken bist und also deine Wünsche für erfüllt hältst.
Da beginnt die Turmstraße. Da blinkt die Stammkneipe.
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Das »Bella Ciao« ist ein altes Wirtshaus mit getäfelten Wänden und einer unter dunkelbrauner Ölfarbe schwitzenden Decke, aus deren Mitte ein gewaltiger Kronleuchter seine Arme segnend über die Gemeinde breitet. Die Glühbirnen in dieser Lampe gehören zu den schwächsten, vielleicht auch sind es die senffarbenen Pergament-Schirmchen, die jede Helligkeit zurückhalten. Bei »Bella« sind immer alle Lampen an, und trotzdem ist es schummrig. Das sichert dem Ort die Ausstrahlung familiärer Wohnlichkeit, ohne ihm das obligatorische Halbdunkel einer Gaststätte älteren Typs zu missgönnen.
Bei allen Stammgästen schlicht als »Bella« bekannt, wird diese Kneipe nicht, wie man spontan vermutet, von einer Wirtin gleichen Namens geführt, sondern von einem Herrn, genauer gesagt einem Amerikaner Anfang 50, der einst an der FU Theologie studierte und sich dann eines besseren besann: Isaac. Wir alle, die wir die Nächte bei »Bella« beschließen, sind seine Kinder, und er tut für uns mehr, als dass er nur anschreibt. Ich selbst bin - auf dem Papier - fünf Jahre bei ihm Kellner gewesen, ohne dass ich je einen Zapfhahn in der Faust gehabt hätte. Aber ich beziehe legal Arbeitslosengeld und muss - denn für Übersetzer gibt es sowieso null Stellen - dann und wann begründen, warum ich einen Job im Hotel- und Gaststättengewerbe nicht antreten kann.
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