Barbara Sichtermann
Fremde in der Nacht
Ein Berlin-Roman
FUEGO
- Über dieses Buch -
Ein temporeich und witzig erzählter Berlin-Roman. Held ist der Versicherungsagent und Eisenbahnfreak Hagen Schäfer, ein Durchschnittstyp mit ziemlich undurchschnittlichen Problemen. Dazu gehören vor allem die komplizierten Ehe-, Liebes- und Triebgeschichten, in die er sich verstrickt hat. Besonders problematisch gestaltet sich die Beziehung zu Yvonne Genthien, der fünfzehnjährigen Anführerin einer Kinderbande. Das quirlige Ding schleicht sich erst in seine Wohnung, dann in sein Herz und schließlich in sein Bett. Da ist der Vorwurf sexueller Verführung Minderjähriger nicht von der Hand zu weisen. Liebe und Verrat, Irrungen und Wirrungen eines heißen Sommers in Berlin.
„Fremde in der Nacht ist ein Buch, bei dem fast alles stimmt: Sprache, Stil, Personen und ihr Lebensgefühl und das Porträt einer sich verändernden Stadt. Eine heiße Sommergeschichte - auch oder sogar besonders an kühlen Tagen ein fulminantes Lesevergnügen.“
Grace Maier auf www.luise-berlin.de
„Wir haben Autorinnen ... die so etwas schreiben können, hier im Lande. Wir brauchen sie nicht zu importieren.“
Die Zeit
Teil I
Juni 1994
Eine Medusa
Erst wenn die U-Bahnschächte so tief runterführen, dass die Luft in ihnen steht, riecht es nach diesem besonderen Gemisch aus Lehm und Öl, Eisenabrieb und Schotterstaub. Die Londoner Tube verströmt den Geruch durchgängig, die Pariser Metro auf weiten Strecken, die Berliner U-Bahn ausnahmsweise. Unterm Alexanderplatz kann man ihn spüren - nur auf den Tiefbahnsteigen, versteht sich - am Gesundbrunnen und in der S-Bahn Friedrichstraße kommt er vor, sonst nur ab und an. Ich als Berliner bedaure das, denn ich atme ihn allzu gern ein, den erdigen, brandigen Hauch. Obwohl er ja nun wahrlich kein Parfüm ist. Es gibt Leute, denen davon schlecht wird. Mir behagt er schon deshalb, weil ich mit ihm das Bewußtsein genieße, ganz tief unten zu sein, in Sicherheit. Da, wo man verschont bleibt, wenn oben eine Granate explodiert, ein Feuer ausbricht oder ein Baugerüst einstürzt. Doch ich mag den Geruch auch als Geruch. Das Modrige an ihm erscheint mir anheimelnd und das Beißende verlockend. Ich wollte schon immer ganz tief runter, schon als Knirps, und wissen, wie man Tunnels ausschachtet, Kabel verlegt und Kanalisationsrohre ineinandersteckt.
Meine eigene U-Bahnstation weist Spuren meines Lieblingsgeruchs auf - oder bilde ich mir das bloß ein? Nein, ich rieche es. Der »Heidelberger Platz«, Berlins schönster U-Bahnhof, liegt für hiesige Verhältnisse ziemlich weit unten. Er musste die höhere Lage an die hier kreuzende Ringbahn abtreten und sich ins Tiefgeschoss versenken lassen. Daher die Gewölbehalle mit den majestätischen Granitsäulen, die den Tunnel stützen, daher ein Anflug von - ja, jenem Gruft-Duft.
Mein »Heidelberger Platz« ist schwach besucht. Wer im gutbürgerlichen Wilmersdorf wohnt, hat einen Wagen. Nur die Kinder fahren mit dem Zug, die Omis, die Penner, die Studenten und ich. Nicht einmal einen Zeitungs-Kiosk beherbergt dieser Keller noch, kein Kartenverkaufshäuschen, keine Süßigkeitenbude und kein BVG-Büro. Das alles war einmal, die Baulichkeiten sind noch da, aber verrammelt. Heute ist nur noch ein Bettler vorhanden - oder soll ich sagen: ein Musikant? Der Kerl spielt Xylophon und ist aus einem dunklen Grund diesem einsamen Bahnhof treu. Schon oft wollte ich ihn fragen, warum. Ich schiebe es jedesmal auf. Dabei duzen wir uns, wir beiden letzten Freunde des »Heidelberger Platzes«. Als ich ihm kürzlich zwei Mark gab, sagte er: »Hast’n großes Herz. Ich heiße Otwin.« Und fragte nach meiner Lieblingsmelodie. Die beiden oberen Schneidezähne fehlen ihm. Das lässt ihn alt aussehen. Ich sagte ihm, dass ich Hagen heiße, und er spielte für mich »Strangers in the Night«.
Heute ist er nicht da. Außer dem Abfertiger bin ich der einzige Mensch in der festlich erleuchteten Tiefe. Ich nutze das aus und öffne mal kurz mein multifunktionales Köfferchen, um einen Blick in den oben rechts im Deckel eingelassenen Vergrößerungsspiegel zu werfen. Die Fallwinde auf den langen Treppen stoßen einem in die Locken und richten Verheerungen an. Meine Haare trage ich ein bisschen länger über den Ohren, und Frau Maaßen, die ich jetzt aufsuchen will, hat nichts dafür übrig. »Im Westen ist das ja wohl Mode«, sagte sie neulich abschätzig. Ich nahm mir vor, beim nächsten Mal in ihrem Hausflur mit dem Kamm durch die Haare zu fahren, ich darf es nicht vergessen. Da kommt die Bahn, eine A3. Täusche ich mich, oder riecht der Luftzug, den sie mitbringt, eine Spur nach Teer?
Ich habe meine Frau in der U-Bahn kennengelernt. Es war eine jener romantischen Begegnungen, um die man oft beneidet wird, denn die meisten Paare sind sich auf Betriebsausflügen oder Geburtstagsparties erstmals näher gekommen, das ist das Normale, und es eignet sich nicht zum Erzählen. Aber im U-Bahnhof, wo man ja kaum verweilt - außer wenn man Fahrkarten verkauft oder als Musikant Geld erbettelt-, wo man vor der Fahrt enttäuscht ist, wenn man nicht gleich vom eintreffenden Zug aufgelesen und weggetragen wird, und wo man nach der Fahrt so schnell davonstrebt wie es eben geht, auf einem U-Bahnhof trifft man nicht die Frau fürs Leben. Und wenn es geschieht, ist es etwas Besonderes.
Es war am Wittenbergplatz, vormals Endstation der Linie 2. Eine schlanke junge Dame hastete die Treppe rauf, wie die ganze Menge, und verlor dabei einen Absatz. Die hohe Hacke brach so plötzlich und vollständig von ihrem Stiefelchen ab, dass die Frau mit einem lauten »Heh-!« halb zur Seite, halb nach hinten wegkippte und mir, der ich auf das »Heh« hin stehengeblieben war, voll in die Arme plumpste. Hinter mir war zufällig ein bisschen Luft gewesen, der Menschenstrom registrierte die Stockung sogleich und rauschte links neben uns vorbei. Ich hielt das Mädchen im Arm und starrte in ein erschrockenes Gesicht mit herrlichen kohlschwarzen Brauen. Sie sagte: »O Gott, pardon!«
Ich hätte sie gerne längere Zeit so gehalten, aber sie rappelte sich hoch und suchte, ihr Erröten verbergend, methodisch und ziemlich mutig zwischen all den eiligen 17-Uhr-Heimkehrern nach ihrem Stöckel. Ich war hinter ihr stehengeblieben. Als sie sich aufrichtete mit ihrem Absatz in der Hand, sah sie mich mit einem Blick an, den ich später an ihr liebte und der so viel besagen sollte wie: Bitte laufen Sie nicht weg, nur weil ich ein bisschen ungeschickt bin! Ich legte meine Hand auf ihren Rücken und gab ihr einen leichten Druck wie beim Gesellschaftstanz; sie reagierte und stakste die Treppe hoch, anmutig um ihr Gleichgewicht besorgt, denn der eine Schuh war ja nun flach, und sie musste versuchen, sich mit einem tänzelnden Schwanken auf diesen ungleich hohen Stiefeletten aufrechtzuhalten. Oben fanden wir ein ruhiges Eckchen, und ich reparierte da ihren Schuh. Es war ganz einfach: In der Sohle klaffte hinten ein kleines, nicht allzu ausgefranstes Loch, und aus der Stöckelbasis ragte ein stumpfer Zapfen heraus. Man brauchte nur ein wenig Fingerkraft. Sie sah mir zu und überlegte - das gestand sie später ein - wie sie es anstellen sollte, mir ihre Dankbarkeit an einem Ort zu bekunden, der etwas weniger gerammelt voll wäre mit Wilmersdorfer Witwen und Charlottenburger Schuhverkäufem. Ich hatte ähnliche Gedanken und wusste meinerseits nicht recht, wie ich sie in Worte kleiden sollte. Schließlich platzten wir beide in derselben Sekunde los und luden einander kreuzweise zu einem Cappuccino ein. Wir gingen ins »Crystal«, das nur zweihundert Meter entfernt war. Es hieß so nach seinen Lüstern, fiel außerdem durch eine mächtige Papageienvoliere auf sowie durch eine besonders nette Wirtin. Einer von den Vögeln konnte sprechen. Er sagte laut: »Prost, alter Gauner!« Wir blieben, bis die Gaststätte um 23 Uhr schloss. In der Tür brach sich Almut, als sie meinetwegen über die Schwelle stolperte - ich hatte was gesagt, worüber sie lachen musste - ihren Absatz noch mal ab. Ich trug sie zum Taxi. Wir waren schon ein Liebespaar.
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