Ja, über eine Anzeige, die Almut selbst in der Stadtteilzeitung »Wo denn« aufgegeben hatte, war ein junger Mann in ihr Leben getreten, der Ralph Schaufuß hieß. Er kam nicht allein, sondern in Begleitung seines Cousins und Spezis Lennart Miller. Die beiden hatten die Message, welche der verklausulierte Anzeigentext nur solchen Kandidaten offenbarte, die besser wussten als ich, was eine Exhibitionistin ist, genau verstanden. Man traf sich, war einander sympathisch, kam überein, und alles lief wunderbar. Bis Lennart sich mit einem dänischen Fotomodell verheiratete und nach Odense zog. Almut und Ralph suchten Ersatz, machten aber nur deprimierende Erfahrungen. Da verliebte sich Almut. In mich.
»Und jetzt«, sagte sie atemlos, »ist es so schön, dass ich gar keinen Dritten mehr brauche.«
Die Freude, die ich empfand, als sie mir die Hände auf die Schultern legte, war nicht rein. Zu deutlich spürte ich, dass ihr Anderssein noch nicht ausgestanden war. Aber ich zog sie an mich und drückte sie fest; ich fühlte, dass die Blätterteigtüte ihren Händen entglitt und ihren Inhalt über meine Hose entließ. Dafür konnte Almut nichts. Ich hielt sie zu fest. Ich wollte den letzten Exhibitionismus aus ihren Gliedern herauspressen. Gleichwohl war unser Einverständnis, da auf der Bank in Paris, so etwas wie eine Verlobung. Sie hatte mir gesagt, wie es um sie stand, wenn sie auch unaufrichtig gewesen war bezüglich der Zeit, und ich hatte trotz dieser Enthüllung an ihr festgehalten. Mir ging es wie ihr: Ich hatte nach langem Suchen endlich eine gefunden, die zu mir passte, und war jetzt nicht mehr bereit, Einwände zuzulassen. Wir taten so, als seien wir über alles erhaben. Übermütig gossen wir die Limonade auf den Rhododendron, der sich mit uns freuen sollte.
Die Atmosphäre im Untergrund drückt mir auf die Schläfen, ich sollte nach Hause fahren. Was mich hält, ist der Geruch, der eine kräftige Schuhcremenote entwickelt hat. Ich wandere den Bahnsteig entlang und schnuppere. Seinerzeit, als das hier alles neu war, sind die Menschen nur so in die Tiefe geströmt; sie fuhren zur Arbeit, sie fuhren nach Hause, sie machten Besuche, sie kauften ein - alles mit der U-Bahn, und es war eine Freude, Schulter an Schulter in diesem Mutterleib-Verkehrsmittel auszuharren und seine Sorgen zu vergessen. Dann raus auf den Bahnsteig, hinein ins Gedränge, treppauf, treppab, und die Absätze brachen nur so von den Stiefeletten. Ende der zwanziger Jahre hat man U-Bahnzüge eingesetzt, die an die tausend Plätze boten - und sie blieben nicht leer. Heute dagegen... Mir scheint, es werden langsam immer weniger im Bauch der Stadt, sogar hier unterm Alex. In der Epoche des Autos sind U-Bahnhöfe historisch. Dazu passt, dass die Leutchen, die sich drunten versammeln, gar nicht so wirken, als läge ihnen was an Fahrt und Vorwärtskommen. Sie gleichen jenen hingestreuten Figürchen auf Städtebaumodellen, die nur dafür gedacht sind, das Modell zu beleben und der Phantasie des Betrachters dabei zu helfen, sich den Bahnhof oder das Einkaufszentrum in Benutzung durch allerlei Volk vorzustellen. Da haben wir zum Beispiel zwei Knaben, die unauffällig am Kaugummiautomaten rumfummeln: schweigend, mit kleinen Bewegungen - genauso unbeteiligt, still und beiläufig wie die hölzernen Miniaturmenschen auf Städtebaumodellen. Die beiden lassen von dem Automaten ab und hocken sich auf den Boden. Der Kleinere zieht ein Taschenmesser raus und geht dessen Funktionen durch. Der Größere guckt sich um und pfeift - einen kurzen, juchzenden Pfiff, der, wie mir scheint, zum Zwischengeschoss hochsteigt und da verklingt. Jemand antwortet von oben mit einem ähnlichen Pfiff. Und gleich darauf turnt eine ganze Bande über die Treppe runter und gesellt sich zu ihren Kumpels. Die Neuankömmlinge sind nicht so ruhig wie die beiden Automatenknacker. Sie springen herum und schreien, einer singt, einer flucht. Nein, das sind keine Statisten auf einem Städtebaumodell, die hier in die Wirklichkeit fallen. Gerade will ich mich darüber wundern, wie dicht doch das Gelände der Berliner Verkehrsgesellschaft mit Jugendbanden besiedelt ist, als mir ein langes, dürres Reff ins Auge fällt, das eine Colabüchse schwenkt: die Medusa. Na klar, das sind sie, meine Pappenheimer. Warum merke ich das erst jetzt, ich Dummbeutel. Das kommt davon, wenn man zu lange im Untergrund rumlungert. Das Hirn funktioniert nicht mehr richtig - infolge Sauerstoffmangels.
Na schön. Ziehn wir’s durch. Ich atme einmal schnaubend aus und drücke dabei Zwerchfell und Rippen nach innen - so kommt Kraft, kommt vor allem deren Anschein über mich. Ich trete vor die Gören hin, als gehörte ich zu ihrer Gang, mache dabei aber eine fast polizeiliche »Keine Faxen«-Geste mit der Hand. In Situationen wie dieser kann ich mich stets auf meine Stimme verlassen. Sie ist so tief und kräftig, dass sie überall durchdringt.
»Wer von euch ist Karli Maaßen?«
In der Tat - ein Sekundenbruchteil lang regiert der Schreck. Danach bricht Tumult los. Die lachen, grölen und biegen sich, als sei »Karli Maaßen« das Witzwort der Saison und ich ein Fernsehmoderator, der den Saal zum Kochen bringt. Grenanders türkise Kacheln werfen das Getöse hohl zurück. Ich verziehe keine Miene. Da springt die Medusa in die Höhe. Als sie vom Boden hochschnellt, überragt sie mich. Ihre Haarschlangen steigen kurz auf wie anklagende Finger. Sie kräht:
»Ick bin - der Karli Maaßen!«
Gebrüll von allen Seiten. Dieser Name, so schlicht er ist, scheint einen enorm komischen Effekt zu machen. Mir wird mulmig. Aber die Gereiztheit ist stärker. Und so ist der Griff, mit dem ich den echten Karl Maaßen, als ich ihn urplötzlich zu erkennen glaube, am Arm packe, ziemlich fest.
»Anfassen is nich!« ruft der Schwarze mit gedämpftem Alarm in der Stimme, aber ich bin in Fahrt und kümmere mich nicht drum.
»Du kommst sofort mit nach Hause«, donnere ich los, »Sonst passiert’s.«
»Wat denn... wat denn?« schnattert der Kleine, dessen Kinn aus der Halterung rutscht. Da passiert’s wirklich, zwar nicht dem Karli, sondern mir und so überraschend, dass ich, der ich sonst gut reagiere, hilflos japse. Die Burschen müssen das trainiert haben, professionell. Zwei von ihnen schnellen mir ihre Absätze in die Kniekehlen, so dass ich einknicke und plump zu Boden rutsche; ein dritter, mir scheint der Schwarze, haut mir auf das Nervenknäuel oberhalb des Ellenbogens, so dass Karli freikommt, sich aber, als wolle er von mir nicht lassen, in mein Revers verkrallt. Einen Moment lang bin ich von den Füßen, Knien und Fäusten meiner Feinde regelrecht eingekeilt und unfähig, mich zu rühren. In diesem fiesen Moment beugt sich die Medusa über mich und spitzt die Lippen. Sie spuckt mich an. Eine Haarschlange berührt meine Stirn, ihre Finger streifen meine Brust. Jesus, was ist das hier für eine Show!
Von der Treppe ertönt eine Stimme:
»Was ist los?! He -!«, und es scheppert und rauscht. Der Zug fährt ein. Die Kids lassen von mir ab und türmen. Ich wende den Kopf nach meinem Retter. Er ist ein Fahrgast wie ich, ein vierschrötiger Herr. Er fragt:
»Alles in Ordnung?«
Ich nicke folgsam und sammle mein Köfferchen auf, das heil und vorhanden ist, immerhin. In der Tat tut nichts weh, nur der Musikknochen dröhnt, und in den Kniekehlen zieht’s, doch was Ernstes ist es nicht. Karli, wo steckt Karli? Die Gang ist in die U-Bahn abgetaucht, der Schwarze hängt noch in der Tür, mit dem Rücken nach draußen, er winkt mir zu. Die Abfertigerin plärrt ihr »Zurückbleiben!«, der Zug braust raus. Ich schüttle entgeistert den Kopf. Über die Bande? Über Karli? Nein, über mich. Ich wische mir den Speichel der Medusa vom Kinn.
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