Jetzt täte mir Leos Gesellschaft gut, also beeile ich mich, ans Tageslicht zu kommen und in die Reichweite einer Telefonzelle. Leo ist mein Freund. Er ist sogar mein Schicksal. Er war es, der mir meinen ersten Vertreterjob vermittelt, mich mit dem Spaß am Geldverdienen angesteckt und mich alles gelehrt hat, was ich fürs Berufsleben brauche. Auch dass ich das Studium aufgegeben habe, ohne es länger als ein paar Wochen zu bereuen, verdanke ich ihm, meinem Vorbild. Er ist zweifellos intelligenter als ich und als Vertreter zufrieden. »Du kannst dein Studium jederzeit wieder aufnehmen«, sagte er. »Als Luxus ist es in Ordnung. Aber als Berufsvorbereitung? Der Mensch, der heute im Arbeitsleben vorankommen will, muss vor allem eins können: verkaufen. Und genau da liegt dein Talent.« Ich war stolz, dass er an mich glaubte. Er tut es immer noch. Und ich, ich glaube an ihn.
Viel haben wir nicht gemein. Mit Modelleisenbahnen hat Leo, auch wenn er mich mit Spott verschont, nichts im Sinn. Schwimmen und Radfahren bedeuten ihm nichts. Und dass meine Ehe mit Almut schon nach kurzer Dauer in die Krise geriet, kreidet er mir als Schwäche an. Na schön, auch als Ehemann ist er der Begabtere, aber das ist keine Kunst bei Magdalena. Sie, Leos Frau, ist eine blonde Polin mit Stupsnase und Wespentaille, und ihre Freundlichkeit ist unerreicht. Das Paar hat zwei Kinder. Der fünfjährige Lukas ist mein Patensohn und gibt überall mit mir an. Wer hat schon einen »Onkel« mit Eisenbahn? Laura ist erst ein paar Wochen alt und Leos ganzes Glück.
Leo und ich sind Kollegen, wir arbeiten beide für die KWP-Versicherung und müssten Konkurrenten sein, aber bis jetzt hat sich da nichts verschärft. Manchmal schlucke ich, wenn er einen dicken Fisch an der Angel hat, während sich bei mir gar nichts tut, und manchmal schielt er, wenn Kopelke, unser Verkaufsleiter, mir ein Extralob spendet und mich zur Schulung der Neulinge einteilt, weil mein pädagogisches Können mehr gilt. Aber das sind Kleinigkeiten. Im großen und ganzen halten wir zueinander.
Erleichtert wird uns das, weil er älter ist und schon im Geschäft war, als wir uns kennenlernten. Das ist sieben Jahre her, aber unser Meister-Schüler-Verhältnis, von Sympathie und Ironie durchwirkt, ist geblieben, wie es war. Bestimmt hat’s auch damit zu tun, dass ich nicht allzu neidisch bin. Prämienmäßig habe ich Leo längst nicht eingeholt - ich akquiriere immer noch Kleinkram, während er mit Betrieben verhandelt. Aber ich hab’s nicht eilig mit dem ganz großen Geld. Almut war mit meinem Einkommen zufrieden; und jetzt, wo sie nicht mehr da ist, leg ich ganz schön was zurück. Eine Modelleisenbahn verschlingt eben nicht so viel wie eine Familie. Obwohl sie, die Bahn, schon ein ordentlicher Kostenfaktor ist. Nichtkenner reißen die Augen auf, wenn ich verrate, was ich jährlich verpulvere. Seit Juni dieses Jahres gibt es den ICE im fertigen Modell. Die Preise?
Astronomisch. Ich werde warten, bis die ersten Exemplare gebraucht zu haben sind. Sofern Lukas mich lässt. Er drängt schon.
Leo hat vorgeschlagen, dass ich zu ihm nach Neukölln komme und wir zwei uns bei einem Gläschen erholen. An sich bin ich kein Kneipenhocker. Aber wenn ich mit Leo allein sein will, lässt es sich anders nicht machen. Bei Dittrichs zu Hause ist es ziemlich eng, und ich mag Lukas nicht abweisen, wenn er kommt und mich bestürmt, ich solle ihm eine Dampflok zeichnen. Also klingle ich Leo runter.
Er kommt im offenen Hemd, den Schlüssel in der Hand, sich mit der freien Hand den Nacken kratzend. Sonst tritt er - das ist berufsbedingt - stets formvollendet auf. Diese Hitze kocht uns alle weich. Statt des üblichen »Na, Junge!« sagt er nur schnaufend: »Na-«. Ich klopfe seinen Ellenbogen.
Ein paar Minuten später sitzen wir im Shangri-La, einer Pinte, die drei verschiedene Versionen chinesischen Huhneintopf anbietet, aber auch Gäste willkommen heißt, die nur trinken wie wir. Ich halte es mit Frankenwein. Leo trinkt Bier. Er sieht geschafft aus. Seine Sorgen gelten zur Zeit seinem Geburtstag. Er wird demnächst vierzig und hat das Gefühl, er müsse groß feiern. Ich hätte ihn gern auf eine intimere Runde eingestimmt, aber er ist schon entschlossen.
»Warte, bis du so weit bist, mein Junge«, sagt er. »Schlimm genug, dass die Jugend vergeht. Da will man doch wenigstens zeigen, dass man noch Freunde hat. Prost, Hahn.«
Seit Baby Lukas versucht hat, meinen Namen auszusprechen und dabei irgendwo im Mittelteil steckengeblieben ist, nennen mich die Dittrichs »Hahn«. Und ich kann froh sein, wenn sie nicht, wie es Magda schon rausgerutscht ist, »Gockel« zu mir sagen.
»Hör zu, du Manta-Fahrer«, sage ich, »wenn du doch mal die U-Bahn nimmst und am Alex umsteigst, solltest du dich vorsehen.« Und ich erzähle. Leo reibt sich die Nase. Seiner Ansicht nach habe ich alles richtig gemacht, und da es gut möglich ist, dass Karli einen Schreck gekriegt hat und heute abend schon bei seiner Tante auf der Matte steht, könnte sich die Angelegenheit rentieren. Denn Dankbarkeit und Verpflichtungsgefühl einer ganzen Sippe werden sich über mich ergießen.
»Mein lieber Mann«, sagt Leo bewundernd, »du lässt nichts aus, was? Ruf die Alte gleich morgen an. Damit sie sieht: Du fühlst mit.«
»Ich kann sie nicht anrufen, sie hat kein Telefon. Ich weiß nicht mal, ob sie eins haben will. Diese Ossis verstehen nichts von Konsum und nichts von Kommunikation. Sie sehen nicht ein, warum sie einen Apparat bezahlen sollen, wenn sie sich unterhalten wollen.«
Wir bestellen noch mal dasselbe, und dann muss Leo was loswerden. Seit meiner Trennung von Almut hat er den besseren Kontakt zu ihr. Er versuchte damals, zwischen uns zu vermitteln, aber jetzt hütet er sich, mir von ihr und ihr von mir was zuzutragen. Er ist so diskret, wie man es als Versicherungskaufmann nur sein kann und im übrigen auch sein muss. Ich schätze das äußerst an ihm. Aber manches Mal hat er einen Auftrag. So auch heute.
»Sie lässt dir ausrichten... und sie hofft, du verstehst... dass sie an eine neue Bindung denkt.«
» --- «
»Das bedeutet: Ihr zwei müsst über die Scheidung reden.«
Pause. Seit langem schon ahne ich, dass meine Frau und ich nicht mehr zusammenfinden. Aber ein anderer?
»Wer isses? Kenn ich den Knaben?«
»Bestimmt nicht, ’n Kollege von der Sparkasse. Einer, der erst kürzlich dazugekommen ist. Aus der Chefabteilung. Sie ist mächtig stolz, fällt die soziale Leiter nach oben.«
Ich schiebe das Weinglas beiseite. Der Schweiß, der mir auf die Oberlippe tritt, kommt nicht von der Hitze. Leo guckt diskret in seinen Humpen. Ich schlucke.
»Na schön, ich ruf sie an.«
»Ich sollte dich ein bisschen vorbereiten, damit du nicht... Sie hatte Schiss, es dir selbst zu sagen.«
Ich grinse in mich hinein.
»Dieser Leitende von der Sparkasse - weiß der, was auf ihn zukommt?«
»Das lass mal dem seine Sorge sein.«
»Warum muss sie ihn gleich heiraten? Sie kennt ihn doch kaum, wenn ich das richtig verstanden habe.«
»O Hahn, lass deine Eifersucht im Stall. Du weißt doch, wie Almut ist. Sie will den Ring. So wie die meisten.«
»Sie hat doch noch unsern.«
»Hahn!«
»Er wird sie vor die Tür setzen, wenn sie mit ihrer Masche rausrückt.«
»Hahn -«, er legt mir die Hand auf den Arm, »vergiss es. Sturkopp! Es ist manchmal wirklich nicht einfach mit dir. Mensch, Junge, die Geschichte ist vorbei.«
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