|27| Ich breche an dieser Stelle mit meinen Annäherungen an Kierkegaards Leben ab, denn es ist erst einmal genug, um den biografischen Hintergrund eines Großteils seines Werks zu verstehen. Anderes folgt, wenn eine Reihe seiner erbaulichen Reden zumindest in Ausschnitten gelesen, mit Glauben und Denken Kierkegaards zusammengebracht und auf ihre möglichen Bezüge zur Gegenwart befragt worden sind.
Christian Möller
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2 Sören Kierkegaard – Annäherungen an sein Werk
Sören Kierkegaard hat in wenigen Jahren ein umfangreiches literarisches Werk geschaffen. Die dritte Auflage seiner Samlede Vaerker, der dänischen Ausgabe der Gesammelten Werke, umfasst 20 Bände (Kopenhagen 1962–1964), die Papirer, die Tagebücher, liegen in 16 Bänden vor (2. Aufl. Kopenhagen 1968–1978). Die einzige bisher vorliegende deutsche Gesamtausgabe der Werke Kierkegaards in der Übersetzung von Emanuel Hirsch und seinem Schüler Hayo Gerdes (Düsseldorf-Köln 1950–1969) zählt 24 Bände, zu denen noch 5 Bände mit einer Auswahl aus den Tagebüchern (Düsseldorf-Köln 1962–1974) hinzukommen.
|30| Die neue dänische Gesamtausgabe (Skrifter), die seit 1994 in Kopenhagen von verschiedenen Forschern herausgegeben wird, ist auf 55 Bände veranschlagt. Auf dieser historisch-kritischen Ausgabe beruht die Deutsche Sören Kierkegaard Edition (DSKE), die in Berlin seit 2005 im Erscheinen begriffen ist. Wer Kierkegaard im dänischen Originaltext lesen kann, findet auch eine online-Version seiner Werke (unter sks.dk).
Von den deutschen Übersetzungen ist diejenige von Emanuel Hirsch und seinem Schüler Hayo Gerdes leider nur mit Vorbehalt benutzbar, weil vor allem Hirsch dazu neigt, Kierkegaards wohlklingendes Dänisch in ein altertümliches und zuweilen umständliches Deutsch zu übertragen. In seiner Manie, Fremdwörter zu vermeiden, hat er immer wieder zu seltsamen Wortbildungen gegriffen (wie z. B. »Fragmal« für »Problem« oder »sintemal« für »weil« oder »da«).23 Deshalb ziehen wir in diesem Buch, wo immer das möglich ist, andere Übersetzungen heran.
Wer Kierkegaard kennenlernen will, muss sich zunächst einen Überblick verschaffen, was zu seinem Gesamtwerk gehört. Dabei wird eine innere Gliederung, eine in rascher Folge entfaltete Konzeption und Komposition erkennbar. Je nachdem, welches Werk wir als Ausgangspunkt wählen und wie wir das Verhältnis zwischen den Teilen und dem Ganzen bestimmen, wird die Perspektive sein, aus der wir an Kierkegaards Texte herangehen. Insofern hängt es vom Zugang des Lesers ab, welcher geisteswissenschaftlichen Disziplin man diesen Autor zuordnet. Und diese Zuordnung beeinflusst wiederum die Art und Weise, wie Kierkegaard gelesen und rezipiert wird.
Zwei Lesarten Kierkegaards – ein kurzer Rückblick auf die Rezeptionsgeschichte
Nun mag der Eindruck entstanden sein, als ob wir ohne Vorbedingung wählen könnten, wie wir uns Kierkegaards Werk nähern. Das ist jedoch nicht der Fall, weil wir nicht die Ersten sind, die seine Texte lesen. Unser Zugang zu ihnen erfolgt auf dem Hintergrund einer verzweigten Rezeptionsgeschichte, in der sich im Wesentlichen zwei Ansätze der Interpretation |31| herausgebildet haben. Beide wirken bei der Lektüre gewissermaßen wie Lesebrillen, und je nachdem, welche Brille wir aufsetzen, werden wir Kierkegaard in einem bestimmten Licht sehen und ihn als Autor so oder so auffassen. Deshalb kann die Übersicht über das Gesamtwerk nicht ohne einen kurzen Rückblick auf seine philosophische und theologische Rezeption in den vergangenen Jahrzehnten auskommen.24
Nach dem ersten Ansatz liest man seine Texte als Dokumente eines subjektiven Denkens oder einer subjektiven Wahrnehmung des Menschen. Diese bis heute weit verbreitete Lesart wird von Sozialphilosophen und liberalen Theologen vertreten. Sie fasst Kierkegaard als Exponenten einer »weltlosen Innerlichkeit« (Th. W. Adorno) und einer monadischen Subjektivität (E. Levinas) bzw. als Fürsprecher eines radikal religiösen Individualismus und eines persönlichen Christentums, das sich von der Kirche als sozialer Institution und Organisation abgelöst hat (H. L. Martensen, E. Troeltsch, E. Hirsch).
Für den zweiten Interpretationsansatz sind Kierkegaards Texte als Mitteilungen eines intersubjektiven Denkens oder einer intersubjektiven Wahrnehmung des Menschen zu lesen. Diese Lesart hat sich inzwischen bei maßgebenden Kierkegaard-Interpreten sowohl in der Philosophie (M. Theunissen) wie in der Theologie (G. Pattison, A. Grøn, H. Deuser) durchgesetzt; sie wurde aber in Deutschland bisher nur unzureichend zur Kenntnis genommen. So erscheint Kierkegaard hierzulande immer noch oft als weltfremder eigensinniger Individualist, der für ein Christwerden des Einzelnen ohne Kirche eintritt – ein Zerrbild, das den unbefangenen Zugang zu seinem Werk verstellt. Liest man indessen seine Schriften und Reden als Zeugnisse intersubjektiven Denkens, erschließt sich die Eigenart seines Denk- und Redestils. Sie ist darin begründet, dass Kierkegaard den Menschen stets in den Relationen Ich – Gott – Du wahrnimmt. Das zwischenmenschliche Verhältnis oder das Verhältnis des einzelnen Menschen zum anderen ist demnach kein unmittelbares, sondern stets ein durch Gott als »Zwischenbestimmung« (mellembestemmelsen) vermitteltes Verhältnis. Ihm kann nur eine doppelt reflektierte, d. h. zugleich auf das Was (den Inhalt) und das Wie (die Aneignung durch den Adressaten) reflektierende Mitteilungsform entsprechen. Diese Form nennt Kierkegaard »indirekte Mitteilung«. Sie lässt dem Adressaten jederzeit die Freiheit, sich so oder so zu ihr zu verhalten. Anders |32| als eine direkte Mitteilung oder Information, die sich auf Sachverhalte bezieht und richtig oder falsch sein kann, ist die indirekte Mitteilung diejenige Mitteilungsform, die bei ethisch-religiösen Fragen erforderlich ist, bei denen es um den Sinn menschlicher Existenz geht. Die indirekte Mitteilung hält, worauf Kierkegaard größten Wert legt, die Subjektivitäten gottesfürchtig auseinander. Sie respektiert, dass jeder Mensch sich als Einzelner zu Gott verhält und es im Verhältnis zum anderen immer zugleich mit Gott zu tun hat, der ihm im anderen als dem Nächsten begegnet.
Zu der eben skizzierten Rezeptionsgeschichte Kierkegaards gehört es nun auch, dass die erbaulichen Reden in Deutschland, ähnlich wie in Dänemark, wenig gelesen werden, während die pseudonymen Schriften seit je bei der Leserschaft größeres Interesse finden. Erst in jüngster Zeit werden die erbaulichen Reden von der theologischen Forschung stärker beachtet (G. Pattison, A. Haizmann). So könnte es sein, dass gerade die Beschäftigung mit ihnen zu einem besseren Verständnis Kierkegaards führt. Denn sein intersubjektiver Denk- und Redestil zeigt sich besonders an den Reden, die von vornherein auf die selbsttätige Rolle des Lesers setzen und ihr die Subjektivität des Autors konzeptionell unterordnen.
Was hat Kierkegaard mit Philosophie zu tun?
Es ist weithin üblich, Kierkegaard der Philosophie zuzuordnen. Das geschieht mit einem gewissem Recht, insofern er Bücher geschrieben hat, die schon mit ihrem Titel, ihrer Problemstellung und ihrem Aufbau zu verstehen geben: Hier geht es um Themen der Philosophie, hier wird grundsätzlich über Fragen des Menschseins nachgedacht. Bücher wie »Entweder-Oder«, »Philosophische Brocken«, »Der Begriff Angst« und »Die Krankheit zum Tode« bedienen sich einer Begrifflichkeit, die weithin aus der Philosophie des deutschen Idealismus, vor allem Hegels, übernommen ist. Sie setzen sich auseinander mit Denkern und Gedanken, die uns aus der Geschichte der abendländischen Philosophie bekannt sind, angefangen mit Sokrates, Platon und Aristoteles. Schließlich folgen manche Schriften Kierkegaards in Aufbau und Gedankenführung einer strengen Systematik, was spätere Philosophen dazu veranlasst hat, sich gerade auf sie zu berufen. Karl Jaspers und Martin Heidegger haben »Der Begriff Angst« und »Die Krankheit zum Tode« besonders hoch geschätzt, weil Kierkegaard darin seine Anschauung vom Menschsein mit größerer begrifflicher Klarheit und Folgerichtigkeit als in anderen Schriften entfaltet. Dennoch ist die Zuordnung Kierkegaards zur Philosophie problematisch, ja in mehrfacher Hinsicht irreführend und falsch.
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