Denn es ist leicht, den Arbeitswillen einer befreiten Menschheit in den Himmel zu erheben, wie die Propagandaliteratur dies tut; man vergißt dabei die sehr großen Erholungs-, d.h. Nichtarbeits- oder Wenigarbeitswünsche, die sich dann mindestens ebenso intensiv geltend machen würden. Um da Zusammenstößen vorzubeugen, könnte eine in der vorbereitenden Übungs- und Erfahrungszeit erzielte Erziehung zum Verantwortlichkeitsgefühl und sozialer Arbeit für ein soziales Milieu gewiß nur nutzen. Vor allen Dingen sollten wir die konstruktive Arbeit des autoritären Sozialismus nicht übersehen, der seit vielen Jahren seine Mitglieder in unzählige gesetzgebende, beratende und verwaltende Stellen hineinzusetzen weiß, dazu zahllose Arbeiter aus seiner Anhängerschaft, die so aus dem privatkapitalistischen in das kommunale und staatliche System übergehen, von dem einmal zum sogenannten sozialistischen Staat und der sozialistischen Gemeinde nur ein Schritt sein wird, den diese bereits dem ganzen Organismus eingefügten Anhänger zuerst machen werden. Wenn man das Adaptation (Anpassung) nennt, ist sein Wesen dadurch nicht erschöpft; es ist bereits ein Teil des neuen autoritären Aufbaus, und wenn wir nicht wünschen, daß im entscheidenden Moment die großen Massen blindlings dieser Strömung folgen, die so plausibel und mühelos erscheint und sie von neuem des Verantwortungsgefühls enthebt, so müßten wir ein freiheitliches Gegengewicht zu schaffen versuchen. Die Genossenschaftsbewegungen sind uns bereits entgangen, weil man die für ihren Betrieb in der gegenwärtigen, über die Rohstoffe, Naturschätze und Arbeitswerkzeuge nicht frei verfügenden Zeit notwendige methodische Regelmäßigkeit und Sparsamkeit für autoritär, entwürdigend und egoistisch-pedantisch hielt. Für die Sozialdemokraten waren sie zu unabhängig, außerstaatlich und außerparteilich und so wurden sie, ihrem Schicksal überlassen, vielfach indifferent, kleinlich und weitgehenderen Zielen entfremdet. Der Syndikalismus ist von seinen unmittelbaren Aufgaben absorbiert und umschloß in den Zeiten seiner größeren Entfaltung so viel unmittelbare revolutionäre Hoffnungen, daß er irgendeine vorbereitende, teilweise, nicht das Endziel direkt anpackende Tätigkeit gar nicht ins Auge faßte und jedenfalls nicht in Angriff nahm. Unter Anarchisten besteht die erwähnte Besorgnis, die ich für übertrieben halte, durch irgendeine nicht direkt revolutionäre Handlung den Sündenfall zu begehen und der Zersetzung oder Korruption rettungslos zu verfallen, wobei aber doch der Fall eintritt, daß gerade sehr viele Anarchisten sich an Seitenbewegungen aller Art sehr eifrig beteiligen und dadurch vielfach der allgemeinen Bewegung verlorengehen. Diese bot eben ihrem Tätigkeitsbedürfnis keine direkte, irgendwie konstruktive Aufgabe, und sich der Revolution unmittelbar zum Opfer zu bringen, ist nicht jedermanns Sache; so bleiben nur die angedeuteten Spezialisierungen übrig, die unsere Idee manchmal viel zu sehr überwuchern.
Gustav Landauer, einer der wenigen, die diese Verhältnisse übersahen, versuchte zweimal, durch die Schrift “Ein Weg zur Befreiung der Arbeiterklasse” (Berlin, 1. Mai 1895; 30.S.) und durch die Gründling des Sozialistischen Bundes (1908), einen Anstoß zu praktisch-sozialistischer Betätigung zu geben, von seinem Interesse für Die Neue Gemeinschaft ganz abgesehen (“Durch Absonderung zur Gemeinschaft”, 1900). Sein zweiter “Sozialist”, seit dem 15. Januar 1909, sein Aufruf zum Sozialismus (1911) und vieles in seinem Briefwechsel begründen seinen Standpunkt überreichlich; daneben steht die harte Tatsache, daß der Bund Ende 1910 17 Gruppen zählte: fünf in Berlin und Umkreis, je eine in Breslau, Leipzig, Hamburg, Köln, Hof an der Saale, Mannheim, Heilbronn, Stuttgart und München, Bern, Zürich, Luzern. Im Februar 1912 waren es 18. Diese Organisation und Landauers persönliche Arbeitskraft und Prestige reichten gerade aus, den “Sozialist” bis zum 15. März 1915 am Leben zu erhalten als die schönste, inhaltsreichste, wirklich wertvollste anarchistische Zeitschrift , die es bis dahin in Deutschland gab. Die Mitgliederstärke der Gruppen ist mir nicht bekannt. Zu einer praktischen Tätigkeit der Gruppen als Gemeinschaft kam es nicht, und wenn lokal irgendetwas geschehen ist, blieb es vereinzelt. Ob nun diese weniger als zwanzig Gruppen 500 oder 1000 Mitglieder zählen mochten, jedenfalls sah Landauer den Miniaturcharakter der Anteilnahme und ebenso die Abneigung, der seine Initiative bei den deutschen Anarchisten begegnete, z.B. auf dem Kongreß in Halle, 16. Mai 1910, und seitens des Leipziger “Anarchist” (s. “Sozialist”, 15. August 1912), und von einem wirklichen Versuch war bald kaum mehr die Rede. Der “Sozialist”, wie Landauer ihn zusammenstellte und großenteils schrieb, war übrigens selbst ein solcher Versuch, dem Anarchismus von allen Seiten, aus dem bestem Denken aller freien Männer neues Blut zuzuführen und ihn vor der Enge und Verknöcherung zu bewahren, der er schon damals zu verfallen drohte; Landauer versuchte ihn weit, geräumig, für die verschiedenen freiheitlichen Richtungen geistig bewohnbar zu machen, auch ein Stück konstruktiver Anarchismus.
Wenn in dem großen deutschen Sprachgebiet in sechs Jahren sich kaum zwanzig kleine Gruppen für freiheitlich-konstruktiven Sozialismus zusammenfinden und auch diese keinerlei Anfang machen, ist das nun wirklich ein Beweis für die Wertlosigkeit, Bedeutungslosigkeit oder Unmöglichkeit dieses Vorschlages oder zeigt es vor allem, wie weit wir es in der Abkehr von einer in den Verdacht, praktisch unter uns sozialistisch leben zu wollen geratenden Tätigkeit gebracht haben? Landauer schrieb einmal: “Wer mich nicht versteht, braucht nicht unbedingt mir die Schuld zu geben”, und diese kecken Worte passen wirklich auf gar manche Situationen.
Würden sich jetzt, nach zwanzig Jahren, wieder nur 500-1000 zusammenfinden, wäre ein Versuch aussichtsloser wie damals. Würden sich 5 -10 000 oder 50 -100 000 für konstruktiven Sozialismus, wenn auch auf gemäßigster Grundlage erklären, so könnte wohl etwas geschaffen werden, dem der einzelne seine gewissenhafteste Arbeitsleistung geben müßte, um es sicher zu begründen, und dann könnte jeder, der etwas an Geist und Talent zu geben hat, das neue Gebäude freiheitlich ausschmücken, und jeder, der für ein freies Milieu empfänglich ist, würde sich in demselben wohl fühlen. Solche Schöpfungen des freien sozialistischen Willens würden unter dem solidarischen Schutz der ganzen Arbeiterschaft stehen, und so weit sind wir schon, um zu erreichen, daß sie dadurch vor kapitalistischen und staatlichen Eingriffen geschützt würden. Sie würden nicht auf ein Land beschränkt bleiben und sich international verbrüdern. So können wohl eine Reihe freiheitlicher Oasen geschaffen werden, die sich, wozu es auch an Anregungen nicht mehr fehlt, teilweisen oder ganzen Austritt aus den Staaten erringen würden, was alles möglich wäre, wenn eine sympathisierende Menge, seien es die organisierten Arbeiter, seien es die radikalen und humanitären freiheitlichen Kreise aller Art, neben ihnen stehen und wenn sie selbst Hervorragendes leisten und ein wirklich der freien Zukunft den Weg weisendes Beispiel geben.
Ist also der freiheitliche Sozialismus aller Richtungen, der Anarchismus und Syndikalismus einer solchen Leistung von Zehntausenden, neben denen Hunderttausende mit solidarischen Sympathien stehen, fähig, dann wäre eine solche Tätigkeit für all diese Richtungen wohl das Zweckmäßigste, durch das sie dem beständig neue Positionen okkupierenden autoritären Sozialismus endlich wirkungsvoll entgegentreten würden. Ist eine solche Grundlage für den Anfang nicht vorhanden, sollte an ihrer Begründung gearbeitet werden; denn wenn einmal wirkliche soziale Krisen Dutzende von Millionen in Bewegung setzen werden, haben wir wenig zu erwarten, wenn wir jetzt nicht einmal einige Zehntausend aktionsfähig finden würden, mit einigen hunderttausend Sympathisierenden neben sich.
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