Liebe Rheinländer, ich kann mir lebhaft vorstellen, wie vielen von Euch heute zumute ist. Und zwar nicht obwohl , sondern weil ich Westfale bin. Schwermut und Blues sind für uns keine Unbekannten. Hier bei uns kommen die beiden nämlich wesentlich häufiger vorbei als bei Euch. Wir brauchen keine tollen Tage, um aschermittwochs traurig zu sein. Wir sind da nicht so kalenderhörig, wir haben das auch schon mal dienstags oder donnerstags und wenn’s sein muss, auch im August bei 28 Grad im Schatten in der Eisdiele.
Ihr merkt hoffentlich, dass ich an Eurem heutigen höchsten Trauertag nicht die Gegensätze, sondern unsere Gemeinsamkeiten betonen will. Außerdem will ich als Westfale nicht verhehlen, dass ich Euch manchmal bewundere. Ja schon – auch ich kann mit Alkohol lustig sein. Und ja: Auch ich kann mich schon mal freuen, manchmal sogar verhältnismäßig begeistern. Das Doofe ist nur: Ich brauch’ dafür ‘n Grund.
Mit neidischen Grüßen
F.E.
Rund fünf Millionen Humoristen
Eine Annäherung
Was wäre die Ruhr-Region ohne ihren Humor? Sie wäre vor allem menschenleer. Der Mensch kann Humor haben, eine Region nicht. Wie denn bitte? Region besteht doch vor allem aus Gegend, also aus unbebauten, dafür aber bebaumten Flächen, aus Wäldern und, in für Normalwüchsige überschaubarer Ausfertigung, aus Asphaltrandbestrauchung, die je nach Hundeausscheidungsaufkommen ebenso dem baldigen Dahinscheiden geweiht ist wie die jede Normbestrauchung gemeinhin umrandende Berasung. Schön ist jedenfalls anders. Es sei denn, es ist Winter und die Laterne ist kaputt. Dann geht’s.
Solchermaßen ausgestatteter Region kann man sicherlich einiges zusprechen, zum Beispiel Gewöhnlichkeit, nicht aber Humor. Hat man denn je eine Lärche, einen Liguster oder eine Laterne lachen hören? Na siehste. Und wenn es sich doch mal ein klein wenig so anhörte wie, dann war es wohl doch nur wieder das vom strammen Südwest verursachte Quietschen im Wind, ganz bestimmt aber nicht das den wahren Humor kennzeichnende »Lachen über sich selbst«.
Ergo: Gegend hat keinen Humor. Weder das erwähnte Inventar, noch die die Gegend vervollständigenden, also in ihr herumstehenden umbauten Räume. Obwohl gerade die ihn am nötigsten hätten.
Hier geht es aber nicht um »Wohnbebauung« genannten Zynismus, also um Architektur, sondern um Menschlichkeit. Denn wenn es in einer Region Humor gibt, dann nur, weil sie bewohnt, vor allem aber beseelt ist. Im Falle des Ruhrgebietes von derzeit rund fünf Millionen Humoristen.
Denn wahrlich, ich sage euch: Die Menschen im Ruhrgebiet haben das Herz auf dem rechten Fleck. Ausnahmslos alle. Diese also durch und durch unkomplizierten, aufgeschlossenen, sympathischen, uneitlen, von harter körperlicher Arbeit geprägten, sich durch die Unbilden des Lebens nicht aus der Bahn werfen lassenden, also nach dem Hinfallen immer wieder aufstehenden, wie gesagt zu einhundert Prozent mit lebensbe-jahender Herzensbildung ausgestatteten und deswegen so liebenswerten Ruhries sind ja vor allem deswegen so liebenswert, weil sie ein so außerordentlich unkomplizierter, aufgeschlossener, uneitler, von harter Arbeit geprägter Menschenschlag sind, der durch die Bank das Herz auf dem rechten Fleck hat und sich nicht unterkriegen lässt.
Es sind vor allem solche von keinem weitergehenden Gedanken befeuerten Zuschreibungen, die die in der Ruhrregion ansässigen Menschen seit einigen Epochen über sich ergehen lassen, ohne erkennbar unter der Belastung zusammenzubrechen. Nicht wenige haben es sogar geschafft, die Vorurteile über sich so anzunehmen, dass sie nun selber glauben, wer, was und wie sie angeblich sind. Ahnungslose Schlaumeier halten das für einen psychischen Defekt. Dass wir es aber hier mit unabweisbaren Indizien für tief in den Menschen verwurzeltem Humor zu tun haben, erkennen die wirklichen Fachleute.
So etwa der große amerikanische Volksschriftsteller Mark Twain. Er wusste: »Die verborgene Quelle des Humors ist nicht Freude, sondern Kummer.«
Heimatloses Osterei
(auf Norderney)
Im Januar wurd ich gesichtet
als selten schickes Einzelstück,
wer mich bekäme, wurd berichtet,
hätt fast schon unverschämtes Glück.
Im Februar war ich verschwunden,
»verzogen«, wurde kolportiert,
nach »unbekannt«, nach »falsch verbunden«,
nach »weißderteufel« emigriert.
Bereits im März war ich vergessen,
kein Schwein fragt seither, wo ich bin,
als Thema sowas von gegessen,
aus dem Sichtfeld, aus dem Sinn.
So kam ich im April zu dir,
in schäbbig braunem Packpapier,
als blinder Nordseepassagier
frierend auf der Frisia IV.
Als heimatloses Osterei
stelle ich auf Norderney
die hoffnungsvollste aller Fragen:
Willst du mich nach Hause tragen?
Der Personenkreis, bei dem ich mir einigermaßen sicher bin, wenigstens ungefähr zu wissen, mit welchen Vorstellungen, Erwartungen und Hoffnungen er durchs Dasein strunkelt, ist sehr überschaubar. Doch selbst von dieser kleinen Gesellschaft würde ich mich derzeit nicht zum Vorstandssprecher ernennen lassen. Bedenkenlos könnte ich nur verkünden, dass in einer guten und gerechten Welt selbstverständlich immer »wir«, also »nur der BVB«, Deutscher Fußballmeister sein muss. Für allgemeingültige Aussagen zu Themen von vergleichbarer gesellschaftlicher Relevanz fehlt mir momentan die Traute.
Ein vollmundiges »wir« kann ich also guten Gewissens nicht anbieten. Dazu mangelt es mir zu sehr an Selbstgewissheit. Der interne Diskussionsbedarf ist groß, von einer klaren Beschlusslage kann nicht die Rede sein. Es scheint mir, dass mein Koordinatensystem gehörig aus den Fugen geraten ist. Ich will mich nicht verallgemeinern, doch wenn mich nicht alles täuscht, bin ich nicht der einzige, der sich gerade öfter mal siezt, weil er sich selbst etwas fremd ist.
Ich sollte vielleicht nicht jeden Quatsch mitmachen. Ich sitze ja auch dauernd an diesem unseligen Newsticker und drück’ die Maus. Habe schon überlegt, meine diversen Monitore mit Warnhinweisen zu verdunkeln: »Aktualisieren gefährdet Ihre seelische Gesundheit. Fangen Sie erst gar nicht damit an!« Ist aber naiv. Ich hänge schon zu sehr in der Suchtschleife.
Und hastenichtgesehn erwische ich mich dabei, dass ich auf einmal erschüttert bin oder sogar empört und ungewohnte Gedanken denke. Gedanken, die mich überrumpeln, aber doch offensichtlich meine eigenen sind. Plötzlich und unerwartet entfährt mir ein zu lautes »Hallo? Das wird man ja wohl nochmal denken dürfen!« In klareren Momenten reiße ich mich dann zusammen und denke: »Na gut, denken kannst du es ja, aber du musst ja nicht alles auch sofort sagen, was du so denkst. Kannst ja erstmal drüber nachdenken.«
Doch hier kann ich es ruhig mal wagen, es zu sagen. Es verlässt ja nicht das Buch. Nur mal so als Beispiel: Ich habe mich eine Zeitlang mehrfach dabei ertappt, dass ich das Bedürfnis hatte, Angela Merkel in Schutz zu nehmen. Vor den zu vielen anderen von diesem öffentlichen Personal. Diesen Reflex hatte ich früher nie. Was ist passiert? Ich hatte doch mal ganz andere Ansprüche. Sind das noch Gedanken oder ist das schon Gefühl? Ich will es nicht geistige Verwahrlosung nennen, aber ich bin obenrum doch ziemlich runtergekommen. Ich freue mich heute schon darüber, dass es mit dieser Kanzlerin wenigstens eine Person in leitender Funktion gibt, die hin und wieder relativ gelassen ein paar Selbstverständlichkeiten von sich gibt. Etwa, dass man Menschen, denen es dreckig geht, gefälligst zu helfen hat.
Ich hoffe, dass es in diesem Land noch eine Mehrheit dafür gibt, das als zivilisatorischen Mindeststandard festzulegen. Und zwar auch, nachdem Frau Merkel ihre Rhetorik aufgrund der sinkenden Umfragewerte aktualisiert hat.
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