Äpfelpressen in Nordhessen
Es war ein zauberhafter Oktober. Einer, der nicht von der Willkür der Weltmeere und von den Launen des Luftdrucks gezeugt schien, sondern vielmehr wie entworfen von der zarten Feder einer Rosamunde Pilcher, am silbrig schimmernden Tisch im Garten eines südenglischen Landhauses leichthin auf blassgelbes Bütten getupft. Ein idealer, ein Idyll-Oktober, wie nach dem Einfältigkeitsgebot zusammengebraut in der Hirnschale des grinsenden Glücksdiscounters Eckart von Hirschhausen.
Gelbgoldig strahlte die Sonne ohne Unterlass vom wolkenlosen Himmel, gerade so, als wollte sie ihre nur sporadische Anwesenheit in den Sommermonaten nun durch eine umso prächtigere Präsenz vergessen machen. Und wie ihr das gelang. In den Morgenstunden schien es, als könne sie es gar nicht abwarten, den Tau von den nachtfeuchten Blechen der schlaftrunkenen Fahrzeuge zu lecken. Heiter blinzelte die Frühaufgeherin über Giebel und Baumspitzen, wärmte Gefieder der emsigen Meise wie Fell des fleißigen Eichhorns, das wohl noch selten in solch zeitigem Licht die Frucht des Haselnussbaumes aus zartem Schalengrün gezutzelt und die Abfälle vor den Hauseingang geworfen hatte. KLOCK. ZCK. ZCK. Und noch eine Frucht. KLOCK. ZCK. Und noch eine. KLOCK. ZCK. ZCK.
Faszinierend und enervierend zugleich, diese niemals versiegende Energie. Genauso wie damals bei unseren hyperaktiven Kindern. Die hochnäsige Psychologin behandelte uns wie den letzten Abschaum. Geschlagene sechs Monate hatte es gedauert, bis wir bei der arroganten Schnepfe endlich die ADHS-Diagnose für die beiden Zappelphilippe durchgeboxt hatten. Im Apotheken-Alibert wurden wir fündig. Doch alle Versuche, auch das Eichhörnchen mit Ritalin zu füttern, schlugen fehl.
Was also blieb uns übrig, als es dem durchgeknallten Vieh nachzumachen und ihm zuzurufen: »KLOCK. ZCK.« Keine Reaktion. Wir wählten die Übersetzung in die Menschensprache: »Verpiss Dich!«
Das Eichhörnchen zeigte sich unbeeindruckt. Es KLOCKTE und ZCKTE weiter, ohne sich einen Deut um uns zu scheren. Voll konzentriert. So, als hätte es immer gut zugehört, wenn Oliver Kahn in Katrin Müller-Hohenstein hineingenüsselt hatte: »Im Herbst hast du als Eichhörnchen natürlich immer diesen wahnsinnigen Druck. Da musst du als Eichhörnchen natürlich immer wahnsinnig konzentriert bleiben. Da bist du als Eichhörnchen natürlich im Tunnel.«
Wir brüllten das Tier an. So wie der frühe Oliver Kahn gegnerische Mittelstürmer angebrüllt hatte, kurz bevor er ihnen die Ohren abbiss. »Ist es nicht ein zauberhafter Oktober!?« Das Eichhörnchen war voll im Tunnel. Unablässig fuhr es fort, Haselnussschalen aufzuzutzeln. KLOCK. ZCK. Sollten wir ihm die Ohren abbeißen? Wahrscheinlich hatte es sich Nüsse hineingesteckt, um nicht am Eigenlärm zugrunde zu gehen.
Uns fiel der Anfang eines Herbstgedichtes ein. »Das Eichhorn knackt die Haselnuss / und wir bekommen Tinnitus.« Nein, so ging das nicht. Daran würden wir später weiterarbeiten, wenn wir die zum Verfassen nachhaltig gültiger Lyrik erforderliche Ruhe gefunden hätten. Doch wie? Und vor allem wo? Wo könnten wir diesen Oktober genießen. Diesen herrlichen, zauberhaften Oktober?
* * *
Bestimmt wusste Gieseking Rat. Genauer: Dr. Gieseking. Dr. Bernd Gieseking ist Universalgelehrter. Eines seiner zahlreichen Spezialgebiete ist das Erforschen menschenfeindlicher Gegenden. Er promovierte 1992 an der ostwestfälischen Eliteuniversität Kutenhausen über das Thema »Vernachlässigenswerte Primärvegetation in postkommunistischen Todesstreifen«.
Wir erreichten Gieseking auf seinem icePhone 1. Das icePhone 1 ist, wie die Produktbezeichnung schon andeutet, ein Einzelstück. Zum icePhone 2 ist es nie gekommen. Giesekings selbst entwickelte, nie lizensierte und deswegen auch nie in Serie gegangene Spezialversion des berühmten Apple-Smartphones hat eine Diesel-App, funktioniert aber auch mit Handkurbelstrom, und zwar ausschließlich in Gegenden, in denen kein Netzempfang möglich ist. Wir erreichten Gieseking im nördlichsten Finnland, in Lappland. Er saß am Rande eines mit linksdrehendem Eigenurin hergestellten Eislochs und verspeiste, wie er sagte, »die erste warme Mahlzeit seit Tagen«, eine Handvoll frisch geernteter Robbenleber. Wir schilderten unser Problem. Dr. Gieseking, der als Halbwüchsiger ein zweimonatiges Berufspraktikum als Fischtreppenhausmeister in den Katakomben der Edertalsperre absolviert hatte, riet zu einem Aufenthalt im Bundesland Hessen.
»Ist von euch aus schnell zu erreichen. Wenn ihr Ruhe wollt, ist das das Sicherste. In der Nähe von Fulda gibt’s einen Ort, der ist wie für Euch gemacht, ›Sterbfritz‹. Total tote Hose. Aber nee, Moment, besser nicht, im Oktober sind da immer Theater-Festspiele auf der Freilichtbühne. Dieses Jahr inszeniert Guido Knopp die Biographie von Günter Grass, ›Ich war dabei‹. Nee, nee, bleibt mal lieber da weg. Fahrt lieber nach Nord hessen. Das ist noch näher. Und da ist echt nix. Gar nix. Noch nicht mal Guido Knopp. Absolute Ruhe. Alle Eichhörnchen sind wegen des Kulturangebotes schon lange nach Kassel oder ins Ruhrgebiet ausgewandert. Auch die Wälder sind so gut wie leer. Die nordhessische Natur hat Burnout. Nordhessen hat die deutschlandweit höchste Selbstmordrate bei Rotwild. Die letzten verbliebenen Jäger dezimieren sich gegenseitig. In Nordhessen gibt es mehr Bäume als in Lappland, aber weniger Menschen. Die Grundstückspreise sind total im Keller. Die einzigen, die da noch siedeln, sind geschäftstüchtige Grüne. Ziehen die letzten Einheimischen über den Tisch, kaufen sie aus den alten Höfen raus, machen tiptop biologisch-ökologische Luxussanierung und stellen Schilder auf: ›Draußen rauchen ist Mord am ungeborenen Baum.‹«
Gieseking hatte es jetzt eilig. Er müsse Schluss machen, das Husky-Taxi sei grad vorgefahren. Er habe gleich ein Blind-Date mit einer Läppin, die Tätowierungen mache. Sie werde ihm ein traditionelles samländisches Motiv stechen, einen Arsch ohne Geweih. »Oh, klingt interessant«, antworteten wir, aber ob ein Blind-Date für so eine Tätowierung nicht etwas unpraktisch sei. »Nein, das ist nichts Ungewöhnliches«, verabschiedete sich Gieseking, »hier am Polarkreis ist eigentlich jede Verabredung ein Blind-Date, die Sonne geht ja praktisch erst März/April wieder richtig auf. Ganz anders als in Nordhessen. Hähä, obwohl es umgekehrt ja viel gerechter wär’. Hähä, naja, egal. Wünsch’ euch viel Spaß da.«
* * *
So kamen wir nach Nordhessen. Gieseking behielt in allem recht. Hier gab es tatsächlich nichts. Nichts als Bäume. Geräuschlose Bäume. Die Kronen getupft wie von Rosamunde Pilchers Aquarellpinseln. Jedes Blatt einzeln. Ganz langsam. Tagelang. Wochen-, monate-, jahrelang. Ein Blatt nach dem anderen. Hellrot, Rostrot, Karminrot, Blutrot – äh, nein – das war kein Blattlaub, das waren die eingetrockneten Überreste eines Jägers, der die Konsequenzen gezogen hatte. In seiner Mundhöhle steckte der Lauf seiner Flinte, in seinem Hut ein Zettel. Aufschrift: »Wer das liest, ist doof. Wie kann man hier nur spazieren gehen, echt ey.« Ganz schön frech, aber wo er recht hatte, hatte er recht. Wir nickten Zustimmung und zogen weiter. Schon nach 30 Minuten Wanderung entfuhr uns ein hilfeschreiähnliches »Ist es nicht ein zauberhafter Oktober?« Doch niemand antwortete. Niemand. Nicht einmal eine Fliege. Nicht einmal der Wind. Was hätten wir jetzt für ein einziges »KLOCK ZCK«, für ein komplett rammdösiges, was hätten wir jetzt für ein Eichhörnchen im ADHS-Endstadium gegeben.
Wir wanderten weiter durch das nordhessische Vakuum. Keine Abwechslung. Immer nur nichts. In unserer Not riefen wir Gieseking an. Die Bedingungen waren gut. Es gab kein Netz. Aber er nahm nicht ab. Wahrscheinlich war der Arsch noch nicht fertig.
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