Vielfältig sind nicht nur die Lobgesänge, die die besten Dichter auf das Bier angestimmt haben, auf das älteste Getränk der Kulturgeschichte, die sinn- wie würdevollste Erfindung des Menschen. Eindrucksvoll vielfältig ist die Alltagspoesie selbst, die der Zungenlöser und Geselligkeitsförderer Bier anregt.
Die Poesie des Biers wendet sich einigen bemerkenswerten Aspekten und einigen abgelegenen Winkeln des unermeßlich weiten Bierkosmos zu, unternimmt Exkursionen in fränkische Bockbierparadiese und in Bierprovinzen, erzählt von Tresengesprächen und von konfusen Bierdiskursen – verpflichtet im wesentlichen den Gattungen und Genres Prosa, Polemik und Panegyrik. Zuweilen mogelt sich das Bier auch bloß vom Rande herein, was nicht bedeutet, daß es dann eine weniger wichtige Rolle spielt.
Im Anhang werden einige spezielle und nicht so spezielle Erzeugnisse der weltweit tätigen Brauwirtschaft begutachtet; mit 241 neu verkosteten Marken ist er als Ergänzung zu den Bänden Bier! Das Lexikon und Bier! Das neue Lexikon gedacht.
Der freundliche Hinweis auf Michael Rudolfs Opus 2000 Biere – Der endgültige Atlas für die ganze Bierwelt sei hier auch gestattet.
Bis zum April 1999 dachte ich, Herrn Rudolf ganz passabel zu kennen; diesen distinguiert auftretenden, edle Lederjacken schätzenden, stets leidlich gescheitelten, kotelettenfreien Herrn, der während seiner Jahre als Sudingenieur c/o Greizer Vereinsbrauerei ein reines Gespür für Hopfen, Malz und die Solistenkunst Ritchie Blackmores entwickelt zu haben schien; der bei gelegentlichen Luftspeedgitarrenwettkämpfen gar nicht mal »schlecht« aussah und dem Moment des musikalischen Glücks meist wohltönende Lautreihen zu schenken verstand; der, und wann findet man so was schon in unsren verlotterten Zeiten, ein Freund war. Bis zum April 1999 –
– da wir gemeinsam die Fränkische Schweiz bereisten und keine drei Tage später getrennte Wege gingen. Gehen mußten.
Ich könnte Sachen erzählen. Wenn hier zum Beispiel einer den Arsch offen hat, dann der feine Herr Rudolf. Der saubere Herr Rudolf, der sich vertraulich gerne »Brüsteforscher Rudolf« nennt, peppt jenen Trank, den er »testifizieren« möchte, mit Zigaretten auf, »um der schalen fränkokanadischen Hopfenkaltschale wenigstens etwas Power« zu »verleihen«. Ernste Verkostung gehorcht gewiß anderen Regeln. Der honorige Herr Rudolf, die Schnapsdrossel und temporäre Whiskyleiche, pflegt jede halbe Stunde zu fordern: »Laß uns noch einen Liter Bierschnaps wegputzen, du fährst ja« – die häßlichste der bekannten Formen des Bierdopings.
Der superbe Herr Rudolf gestand mir am Schanktisch des Aufsesser Brauhauses, bevorzugt bei geschlossener Flasche und »per Anblick« zu verkosten. Es ist der anständige Limofan Rudolf, der im Grunde nur nach Weibern ächzt und einen Dreck um die Weiterentwicklung der Bierliteratur sich kümmert. Die Notizen und Notate des Rauchbierrauchers Rudolf erfüllen samt und sonders den Tatbestand des Betrugs und wollen, erklärt er gegen zwölfe steinvoll johlend, »eh bloß dem verfickten Kunstgedanken Genüge leisten«.
Der edle Herr Rudolf, der ab einse »Mein Freund, der Frauenarsch« intoniert, ist ein akkurater Lump und nur zum Schein ein manierliches Mitglied der Menschengesellschaft. Mein Vertrauen hat er verwirkt. »Ich fress’ jetzt ein Schnitzel«, waren die letzten Worte, die er an mich richtete, bevor er ein Warsteiner köpfte, sein Rad bestieg und in den blitzend roten Horizont entschwand, um »dieses Scheißbuch runterzusemmeln«.
Immerhin: Drei Wörter hier sind wahr. Mehr als auf den folgenden Seiten.
Michl Rudolf, alter Seebär!
So hatten wir zwar nicht gewettet; aber Du hast es so gewollt: im Greizer Wald, wo Du vor vierzig Jahren zusammen mit Deinen Großeltern sämtliche bekannten Pilz- und Reharten der nordöstlichen Hemisphäre in einem Akt spontaner Willkür komplett um- und neubenannt hast, kurz nach dem Rechten zu sehen und dann die Lebensnot- und -mutreißleine zu ziehen.
Michl, alter, guter Stiefel: Jetzt trinkst Du uns im Deutschen Brauer-Bund-Himmel die siedend schönen Bierkessel auf eigene Rechnung leer und weg, und bei solch sauberer Feinarbeit wollen wir Dich auch nicht stören, auch wenn wir’s zu gerne täten. Aber, good old Lump, hinauf zu Dir brüllen und jammern dürfen und müssen wir doch: Keep on rockin’ and drinkin’ in a Binding-free world!
Deine Schwermutmatrosen von stets Deiner
Titanic
Ich weiß nicht, ob ich richtigliege – vielleicht weiß man ohnehin praktisch nichts von jenen Dingen, die relevant sind –, aber eine autobiographische Miniatur aus Michael Rudolfs seit Mitte der neunziger Jahre in dichter Abfolge erschienenen Büchern lese ich heute als eine Art Programmschrift, die mir die Augen öffnet für sein schriftstellerisches und sein Lebenscredo, die er beide nie explizit formuliert hat.
»Topographie des Taumels« aus Der Pilsener Urknall (Leipzig 2004) ist die Hommage an den Bürgerhof überschrieben, an eine seiner zwei Stammkneipen während der Schulzeit in der DDR. »Die Schwerkraft wirkte höchstens symbolisch, damit die Leute auf den Stühlen blieben. Nicht daß es in dieser Topographie des Taumels einen einzigen Augenblick stille gewesen wäre. Immer gab es was zu erzählen und am meisten von denen, die ohnehin ihren ganzen Tag hier verbrachten. Selten waren die Gespräche ergebnisorientiert. Trotzdem funktionierte die vor der oralen Hysterie draußen hermetisch behütete – Achtung: Kalauer! – Oral history. Wohl weil deren Protagonisten stilsicher auch an den richtigen Stellen weinen konnten.«
Zwischen den »Distinktionsverlierern« und sozial Geächteten war ein Glück beheimatet, »da lebten sie auf, lebten sie vorübergehende Gleichberechtigung. Und fühlten sich als Subjekt.« Man sollte diese Sätze ganz und gar ernst nehmen. Michael Rudolf spricht hier ohne satirische Camouflage: »die Welt – und was für eine – in einer Nußschale.« – »Im Bürgerhof operierte die Kommandoebene eines Lebensverschönerungsvereines […]. Im Bürgerhof kam ich mir vor wie in einem Paralleluniversum: unendlich nah an der albernen Sinnestäuschung, die von der Menschheit als Leben hingenommen wird, und doch un(an)greifbar und Welten davon entfernt.«
Nicht greifbar und mitten im Leben – jedoch in einem Leben, das mit dem gewöhnlichen, realistisch abschilderbaren ›Leben‹ nichts gemein hat, mit dem Leben der Honoratioren und Dicketuer und »Kaufleute und Lokalpolitiker«, gegen deren herrschende Gegenwart eine Idee des Lebens steht, von deren Finalität Michael Rudolf im Rückblick auf den Abriß des Bürgerhofes etwas preisgibt, und zwar in einer kaum verschlüsselten absurden Figur: »Dem Wirt half dieser bittere Gegenschlag des Daseins wenigstens, den Kampf gegen seinen Selbsterhaltungstrieb zu gewinnen.«
Ich hatte das große Glück, Michael Rudolf 1994 kennenzulernen. Wir hatten bis dahin ein paarmal miteinander korrespondiert und telephoniert, und nun kauerten wir in der Frankfurter Messekoje seines Verlages Weisser Stein, mit dem er – unter beträchtlichem finanziellen Verlust – Autoren wie Gerhard Henschel, Susanne Fischer, Fritz Tietz und Eugen Egner die Tür zur großen Verlagswelt aufstieß.
Wir tranken irgendeinen hessischen Bierrotz und schienen uns zu verstehen. Zwei Jahre später kampierten wir dann in meiner Wohnung und schrieben Bier! Das Lexikon . Michael, der in der Titanic (4/1994) mit einer Parodie auf die Verkostungsliteratur die Blaupause für das schließlich juristisch von allerlei Seiten schwer bombardierte Buch geliefert hatte, war schon damals gesundheitlich angeschlagen – er machte vor allem die höllischen acht Jahre als Brauingenieur und Schichtleiter in der Greizer Schloßbrauerei für seine oftmals marode Verfassung verantwortlich –; aber in den zwei Wochen, in denen wir wie bekloppt zwischen Batterien von Bierflaschen aus aller Welt herumstaksten und nebenher unseren Unsinn in die Tasten klopften, war er nicht selten fast entfesselt ausgelassen. »Mit dir ist gut arbeiten«, sagte er plötzlich eines Abends strahlend, und ich muß gestehen, daß nahezu alles, was von dem Buch bleibt, von Michael stammt – natürlich auch mein Lieblingseintrag: »Beck’s Spitzen-Pilsener – 4,7% Brauerei Beck & Co. Bremen. Eigenartig: schmeckt immer so, wie man sich gerade fühlt, also meistens schlecht.«
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