Obgleich dieser nicht immer einfachen, aber größtenteils unbeschwerten Kindheit wurde Biko schon in seinen jungen Jahren mit den Auswirkungen der Apartheidspolitik konfrontiert. Hierfür genügten zunächst nur zwei Blicke. Einen in die staubigen Straßen seines Townships. Über 800 Familien schwarzer Südafrikaner lebten auf wenigen Quadratkilometern in Ginsberg zusammen. In einigen Straßen mangelte es an Häusern. Nur ein geringer Bruchteil der Bewohner verfügte über direkten Zugang zu Elektrizität, Trinkwasser und medizinischer Versorgung. Viele der Haushalte mussten sich Toiletten und Trinkwasserbrunnen teilen. Der andere Blick richtete sich zum Fluss, dem Buffalo River, und der dahinter verlaufenden Schienentrasse. Obwohl nur ein Steinwurf entfernt trennten diese beiden Linien die unterschiedlichen Lebensverhältnisse. Hier die ärmlichen schwarzen Wohnsiedlungen. Dort das Zentrum von King William´s Town mit den Vierteln der wohlhabenden weißen Südafrikaner. Ein Bild, das symbolhaft für die gesellschaftliche Entwicklung Südafrikas im 20. Jahrhundert stand. Ob in Kapstadt, Durban, Pretoria oder Johannesburg – die Verhältnisse glichen sich überall. Sie waren das Ergebnis einer jahrzehntelang betriebenen Trennung der Bevölkerungsgruppen, deren Grundstein schon in den 1910er und 1920er Jahren gelegt wurde.
In diesen zwei Dekaden mussten bereits Steve Bikos Großeltern und Eltern miterleben, wie aufeinanderfolgende Regierungen die gesellschaftliche Spaltung anhand der ethnischen Zugehörigkeit forcierten. Stück für Stück wurden alle nicht-weißen Südafrikaner die Rechte und Freiheiten entzogen oder stark eingeschränkt. Zunächst kam die Enteignung des Landes. Per Gesetz. Native Lands Act der Regierung Louis Botha 1913. 8Nur noch sieben Prozent des landwirtschaftlich nutzbaren Landes wurde den Schwarzen in ausgewiesenen Reservaten als Besitz zuerkannt, obwohl diese mehr als zwei Drittel der Bevölkerung ausmachten. 9Keine zehn Jahre später folgte die räumliche Trennung in den Städten. Es war eine staatlich verordnete Segregation, die den weißen Südafrikaner die Zentren der Städte als Lebensraum vorbehielt. Schwarze hingegen mussten sich fortan an den Rändern der Stadt ansiedeln. Ihnen wurde nur ein befristetes und eingeschränktes Aufenthaltsrecht, beispielsweise zum täglichen Arbeiten, in den Stadtzentren gewährt. 10Schließlich begann ab Ende der 1920er Jahre der zunehmende Eingriff des Staates in das Privatleben. Auch hier sollte klar zwischen Schwarz und Weiß getrennt werden, indem u. a. der Sexualverkehr zwischen beiden Bevölkerungsgruppen strafrechtlich verfolgt wurde. 11
Schon bevor Steve Biko als Junge durch die Straßen seines Townships ging, offenbarte sich Südafrika also als ein Land der gesellschaftlichen Trennung mit krassen Gegensätzen und Rissen. Doch waren diese nur ein Bruchteil dessen, was später die Apartheid ausmachte. Ursprünglich war die Apartheid nur Bestandteil eines Wahlprogramms des Parteienbündnis aus National Party (NP) und Afrikaner Party (AP). Parteien, die sich im Milieu der weißen Afrikaans sprechenden Südafrikaner etabliert hatten. Inhaltlich sah das Programm eine Verschärfung der bereits bestehenden Gesetze vor. Die in Südafrika lebenden Bevölkerungsgruppen sollten gemäß ihrer „rassischen“ Zugehörigkeit zukünftig eine noch striktere getrennte Entwicklung durchlaufen - Apartheid. Ziel war es die bereits bestehende Vorherrschaft der weißen Südafrikaner gegenüber den Bevölkerungsgruppen der Schwarzen, Coloureds (Farbige/Mischlinge) und Asiaten (vor allem Indern) dauerhaft zu festigen. Weiterhin sollten letztgenannte konsequent von der Teilnahme am politischen Leben und deren Einrichtungen ausgeschlossen werden. 12Mit diesen Forderungen konnte sich die Koalition aus NP und AP erfolgreich als vielversprechende Alternative zu den etablierten Parteien präsentieren. Neue Wählerschichten konnten gewonnen werden und am 26. Mai 1948 hatten die zwei Parteien ihre Ziele erreicht - Wahlsieg und Regierungsübernahme. 13
Im Verlauf der 1950er Jahre, als Steve Biko gerade die Grundschule besuchte, begann die stufenweise Umsetzung der Apartheid. Auf vielfältige Art und Weise durchdrang diese Politik die südafrikanische Gesellschaft und prägte nachhaltig das Zusammenleben am Kap. Bis heute. Eine wahre Flut aus Gesetzen und Verordnungen regelte fortan das tägliche Verhältnis der Menschen untereinander. Hier sind einige Beispiele: Durch die Einteilung der Bevölkerung nach körperlichen Merkmalen, wie der Hautfarbe, und eines noch drastischeren Verbots gemischter Lebensbeziehungen zwischen allen Bevölkerungsgruppen sollte die „Reinheit der weißen Rasse“ gewährleistet werden. 14Dadurch wurden mitunter ganze Familien auseinandergerissen. 15Weiterhin verschärfte die National Party die räumliche Trennung und Konzentrierung nicht-weißer Südafrikaner durch die Schaffung separater Wohngebiete wie Townships und Homelands. Gleiches betraf die Bewegungsfreiheit, die durch die Einführung von Passgesetzen stark eingeschränkt und kontrolliert wurde. 16Letztendlich wurde diese Politik bis auf die untersten Ebenen des gesellschaftlichen Lebens herunter gebrochen. Verkehrsmittel, Strände, Geschäfte, Parkbänke, Restaurants, Toiletten und die schulische Erziehung wurden dieser Rassentrennungspolitik unterzogen. Mehr als 1.000 dieser Gesetze sollten es im Jahr 1986 sein. 17
Die ersten direkten Erfahrungen mit den Gesetzen machte Steve Biko als Teenager. Nachdem er die Grundschule verlassen hatte, besuchte der junge Biko zunächst die Forbes Grant High School. Hier zeichnete sich er sich durch sehr gute Leistungen aus, die gleichwohl auch ein Verdienst seiner Mutter waren. Mamcethe Biko legte bei all ihren vier Kindern größten Wert auf eine gute schulische Erziehung. Trotz der nicht enden wollenden und mäßig bezahlten Arbeitstage, investierte sie die Zeit, die ihr vom Tag übrig blieb in die Ausbildung ihrer Kinder. Dies zahlte sich aus. Sowohl Steve als auch sein älterer Bruder Khaya erhielten von der Gemeinde Ginsberg 1962 ein Stipendium, um die Lovedale Institution in der 50 Kilometer entfernten Kleinstadt Alice zu besuchen. Die Lovedale Institution war eine ehemalige Schule der Glasgower Missionsgesellschaft. Sie war eine der wenigen Schulen in der schwarze Südafrikaner eine gute und allumfassende Ausbildung erhielten. Weiterhin befand sich die Schule in Nachbarschaft zur Universität von Fort Hare, der einzigen für schwarze Studenten bis in die 1960er Jahre. Folglich bot sich für Steve Biko mit dem Stipendium für die Lovedale Institution längerfristig die Möglichkeit, in den Genuss einer guten Ausbildung zu kommen. In einer Zeit, in der die Regierung massive Eingriffe in das Bildungssystem vornahm und weiterführende Bildung wie Sekundarschulen oder Universitäten für Schwarze nur in begrenztem Maße vorgesehen war.
Mit 16 Jahren kam Biko nun nach Alice, um sich weiterzubilden. Lange sollte er aber nicht von seiner neuen Umgebung profitieren. Ganze drei Monate blieb er vor Ort. Dann war das Kapitel Lovedale Institution schon wieder beendet. Bikos Bruder Khaya wurde von der Polizei festgenommen, da er verdächtigt wurde mit dem verbotenen Pan Africanist Congress (PAC) zu sympathisieren. 18Der PAC verfolgte wie der African National Congress (ANC) mit vorerst friedlichen Mitteln des passiven Widerstandes und zivilem Ungehorsams die Apartheid zu bekämpfen. Nach deren beider Verbot im April 1960 versuchten beide Gruppen aus dem Untergrund heraus den Staat mit gewaltsamen Aktionen zum Einlenken zu bewegen. Sabotageakte und Anschläge folgten, die sich jedoch nicht gegen Personen richteten. Obwohl Steve Biko zum damaligen Zeitpunkt in keiner Verbindung zum PAC stand, wurde er auf Grund der Anschuldigungen gegen seinen Bruder mit inhaftiert. Im örtlichen Polizeirevier kam Biko erstmals in Kontakt mit den südafrikanischen Sicherheitsbehörden und ihren Verhörmethoden: Mehrere Polizisten um ihn herum im Befragungsraum. Sie wirkten einschüchternd in der Enge des Raumes. Lange Verhöre und kaum Pausen. Ständig wiederholte Fragen auf die er keine Antwort wusste. Zunehmende Drohungen seitens der Polizisten. Sowie eine sekündlich wachsende Unruhe über den Verbleib seines Bruders Khaya. Später rekapitulierte Biko diesen Tag wie folgt: „They [die Polizei] […] sent me in first for a sort of heavy grilling, seven people around me. […] They were talking about things I was doing with “friends”; I didn’t know about this. This was how I got a glimpse into what was going to happen to my brother. I never saw him thereafter. He just disappeared.” 19Zehn Monate vergingen, bis sich Steve und Khaya Biko wiedersahen. Khaya war einer noch längerfristigen Inhaftierung, nur dank einer erfolgreichen Berufung, entgangen. Trotz alledem muss Steve Bikos älterer Bruder dermaßen von Strapazen im Gefängnis gekennzeichnet gewesen sein, dass dies nachhaltig auf Steve einwirkte.
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