Der Sound von Grotesque ist eine scheinbar unmögliche Kombination von Chaos und Strenge, eine Verbindung des Geistig-Literarischen mit dem Idiotisch-Physischen. Das ganze Album ist vom Gegensatz zwischen dem Alltäglichen und dem Seltsam-Grotesken strukturiert, als sei es die Antwort auf eine waghalsige Vermutung. Was, wenn der Rock’n’Roll im Herzen der Industrialisierung in England geboren wäre, statt im Mississippi-Delta? Der Rockabillysound von »Container Drivers« oder »Fiery Jack« wäre verlangsamt von Fleischpastete und Soße, Fluchtfantasien im Keim erstickt von einem Humpen Bier und einer Tasse schlierigem Tee. Rock’n’ Roll wäre das Kabarett der Arbeiter, vorgeführt von einem gescheiterten Gene-Vincent-Imitator in Prestwich. Doch solche Spekulationen gehen fehl. Rock’n’Roll brauchte die endlosen Highways; er hätte niemals in England entstehen können, in seinen chaotischen Ringstraßen und klaustrophobischen Ballungsgebieten. In dem Lied The N.W.R.A. (»The North Will Rise Again« / »Der Norden wird wieder auferstehen«) wird der Konflikt zwischen der beengenden Weltlichkeit Englands und dem Grostesk-Seltsamen am deutlichsten zur Sprache gebracht. Alle Motive des Albums verdichten sich in diesem Song, einem Märchen über kulturpolitische Intrigen, das wie ein absurder Mulch aus T.S. Eliot, Wyndham Lewis, H.G. Wells, Philip K. Dick, Lovecraft und John le Carré klingt. Das Lied erzählt die Geschichte von Roman Totale, einem Hellseher und ehemaligen Kleinbühnendarsteller, dessen Körper voll von Tentakeln ist. Oft wird gesagt, dass es sich dabei um eines der »Alter-Egos« von Mark E. Smith handelt; tatsächlich steht Smith in derselben Beziehung zu Totale wie Lovecraft zu Randolph Carter. Bei Totale handelt es sich eher um einen Figurentypus statt um eine echte Person. Deswegen hat Totale natürlich keinen fest umrissenen Charakter, sondern ist vielmehr der Träger eines Mythos, ein intertextuelles Konglomerat von Pulp-Fragmenten:
»So R. Totale dwells underground / Away from sickly grind / With ostrich head-dress / Face a mess, covered in feathers / Orange-red with blue-black lines / That draped down his chest / Body a tentacle mess / And light blue plant-heads. //
Also R. Totale wohnt unter der Erde / Fernab der kranken Schinderei / Mit einem Straussenkopfschmuck / Einem dreckigen Gesicht, mit Federn bedeckt / Orangerot mit schwarzblauen Runzeln / Bis zur Brust behangen / Der Körper, ein Wust aus Tentakeln / Und einem hellblauen Pflanzenkopf.«
Die Form von »The N.W.R.A.« ist von organischer Ganzheit so fern wie Totales abscheulicher Tentakelkörper von der menschlichen Figur. Es ist ein groteskes Machwerk, eine Collage, in der nichts zusammenpasst. Vorbild des Liedes ist eher die Novelle statt das Märchen; die Geschichte wird episodisch erzählt, aus verschiedenen Blickwinkeln, mit einem vielstimmigen Gewaltstreich verschiedenster Stile und Register: komisch, journalistisch, satirisch, romanhaft, wie als wäre Lovecrafts »Cthulhus Ruf« vom James Joyce des Ulysses noch einmal geschrieben und in zehn Minuten gepresst worden.
Soweit sich erkennen lässt, steht der Protagonist Totale – von Beginn korrumpiert und betrogen – im Zentrum einer Verschwörung, um den Norden wieder zu alter Glorie zurückzuführen, vielleicht zurück in die viktorianische Zeit der ökonomischen und industriellen Vorherrschaft; vielleicht sogar noch weiter zurück, vielleicht zu einer Größe, die alles übersteigt, was es jemals gegeben hat. Mark E. Smiths Vision des Nordens ist mehr als eine lokale Tirade gegen das Kapital, sein Norden steht vielmehr für alles, was der gute Geschmack der Stadt unterdrückt: das Esoterische, das Unnormale, das vulgär Erhabene, will sagen: das Seltsame und das Groteske selbst. Totale, geschmückt mit einem widersinnig-grotesken Kostüm eines »Straußen-Kopfschmucks«, »Federn / orange-rot mit blau-schwarzen Runzeln« und »hellblauen Pflanzenköpfen«, ist der Möchtegern-Elfenkönig dieser seltsamen Revolte. Er endet als ihr Fischerkönig, zurückgelassen wie eine modernistische Pulp-Version von Miss Havisham inmitten der Reste eines Karnevals, der niemals stattfinden wird, das geifernde Totem eines erfolglosen Kampfes gegen den sozialistischen Realismus, der visionäre Führer, zurückgestutzt auf einen heruntergekommenen Kabarettisten, während die Psychotropen verblassen und der Eifer verhallt.
Mit dem 1982er Album Hex Enduction Hour kehrt Smith zur Form des seltsamen Märchens zurück, eine weitere Platte, die voller Anspielungen auf das Seltsame ist. In dem Song »Jawbone and the Air Rifle« beschädigt ein Wilderer aus Versehen eine Grabstätte und buddelt einen Kieferknochen aus:
»And here is a jawbone cacked in muck / Carries the germ of a curse / Of the Broken Brothers Pentacle Church //
Und hier ist ein Kieferknochen, beschmiert mit Mist / Er trägt die Saat eines Fluches / Von der Pentakel Kirche der Gebrochenen Brüder«.
Das Lied ist ein dichtes Gewebe aus Anspielungen auf Geschichten von M.R. James wie »A Warning to the Curious« und »Oh, Whistle, and I’ll Come to You, My Lad«, Lovecrafts »Shadow over Innsmouth« bis hin zum Hammer-Horror und The Wicker Man – alles kulminiert in einem psychedelisch/psychotischen Zusammenbruch, einschließlich eines Fackeln schwingenden Dorf-Mobs.
»He sees jawbones on the street / advertisements become carnivores / and roadworkers turn into jawbones / and he has visions of islands, heavily covered in slime. / The villagers dance round pre-fabs / and laugh through twisted mouths. //
Er sieht Kieferknochen auf der Straße / Werbeplakate werden Fleischfresser / Und Straßenarbeiter werden Kieferknochen / Er hat Visionen von Inseln voller Schleim / Die Dorfbewohner tanzen um Fertighäuser / Und feixen durch verzerrte Münder.«
»Jawbone and the Air Rifle« erinnert am deutlichsten an einen Sketch der britischen Comedy-Gruppe League of Gentlemen. Der von ihnen inszenierte fiebrige Karneval – voller Verweise auf das Seltsame und ständigen Verbindungen des Lachhaften mit dem Ernsten – ist eher ein würdiger Nachfolger von The Fall als die Musikgruppen, die versucht haben, es mit ihrem Einfluss aufzunehmen.
Das Lied »Iceland« wiederum, aufgenommen in einem Reykjaviker Studio mit Wänden aus gehärteter Lava, ist eine Begegnung mit den verblassenden Mythen der nordeuropäischen Kultur auf dem gefrorenen Territorium, wo sie entstanden sind. Hier ist das groteske Gelächter verstummt. Das hypnotisch wallende Lied, meditativ und voller Trauer, erinnert in seiner arktischen Stimmung an die knochenweißen Steppen von Nicos The Marble Index . Ein klagender Wind (auf einer Kassettenaufnahme von Mark E. Smith) zieht durch das Lied, während Smith uns einlädt, »die Runen gegen unsere Seele zu werfen« (»cast the runes against your own soul«), ein weiterer Verweis auf M.R. James, diesmal auf seine Erzählung »Casting the Runes« (dt. »Drei Tage Frist«). »Iceland« ist eine Art Götterdämmerung für die sich zurückziehenden Hobgoblins, Kobolde und Trolle der verblassenden Kultur des Seltsamen in Europa, ein Klagelied für die Monstrositäten und Mythen, deren letzte Atemzüge auf der Kassette gebannt sind:
Witness the last of the god men
A Memorex for the Krakens //
Schau’ den letzen Göttermensch
Ein Memorex 3 für Kraken
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