Aber das ist nur Phantasie. Die echte Vision, der wirklich durchgeknallte Flash war genauso wie die Wirklichkeit, nur dass sie in einem endlosen Loop immer weiter spielte. Die wahre Geschichte ist, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, um die Apokalypse losbrechen zu hören, durch die Eingangstür zu fallen und die Cellophanhülle ›zu Ihrer Sicherheit‹ aufzureißen, die Platte herauszunehmen – ah, sieh nur, die Rillen, total lackschwarz, noch ohne jeden Schmierfleck, glänzend und neu und so scheiß unberührt, dann die Farbe des Labels, seine glühende Aura, die schon einen zarten Hinweis auf die Klänge gibt, die dieser Scheibe entströmen werden. Oder handelt es sich lediglich um eine langweilige monochromatische Oberfläche, wie eine Schulmauer (wie bei RCA und Capitol, nachdem irgendein Depp sie neu gestaltet hat – ein Beispiel für künstlerische Zurückgebliebenheit)? Und schließlich legt man die Platte auf den Teller, eine perfekte Sekunde dreht sie schwerelos, gefolgt von dem Moment der Wahrheit, Nadel in Rille, und endlich Sound.
Was dann kommt, ist oft so dermaßen unspannend, dass es selbst den rationalsten Menschen in tiefe Verzweiflung stürzt. Bäh! Die ganze Musikwelt ist voller Einfaltspinsel und Scharlatane, mit Ausnahme von einigen wenigen Genies und einsamen Eulenspiegeln.
All das sah ich vor mir, während ich inmitten der Agonien des weichgespülten Question Mark and the Mysterians-Sounds saß, und mehr noch, ich sah mich selbst als verwirrten alten Knacker, der eine Ausgabe des 96 Tears-Albums in den Händen hält, und mit dem hängenden Unterkiefer eines Mannes, der am Ende seines vergeudeten Lebens steht und ins Leere starrt. Und im nächsten Moment, die Uhr muss praktisch still gestanden haben, sagte mein Freund offensichtlich höchst erstaunt: ›Du hast Question Mark and the Mysterians gekauft?‹
Ich glotzte ihn stumpf an. ›Klar‹, sagte ich, ›warum nicht?‹
Mir ist schon klar, dass das ziemlich pathologisch klingt – obwohl ich das, bevor ich es hier ausgesprochen habe, nie so empfunden hatte –, und die Freudschen Anklänge sind vermutlich kinderleicht zu sehen. Aber was ich nicht verstehe ist, was das alles zu bedeuten hat? Nicht, dass ihr den Eindruck bekommt, dass das Kaufen und Hören von Platten per se bei mir immer mit derartigen Wahn- und Desorientierungsanfällen oder einem besonderen Maß an Besessenheit und Zwangsneurose einhergeht. Es ist nur einfach so, dass Musik für mich schon immer mit einem fluktuierenden Fanatismus gekoppelt war – genau genommen, seit ich in der ersten Klasse zum ersten Mal ›Der Sturm‹ aus der Wilhelm Tell Ouvertüre in einem Fernsehkartoon hörte. Und beim Autofahren während meiner Oberschulzeit, als Songs wie ›There Goes My Baby‹ im Radio liefen und als ich in der fünften meinen ersten Plattenspieler bekam und zum ersten Mal Sachen hörte wie John Coltrane und Charlie Mingus’ The Black Saint and the Sinner Lady und die Stones und Feedback und Trout Mask Replica. All das waren Meilensteine. Jeder einzelne briet mein Gehirn nur noch mehr, besonders die Erfahrung, die ersten Male ein Album zu hören, das so absolut, so Gehirn verdrehend war, dass man ehrlich sagen konnte, danach nicht mehr derselbe zu sein. Black Saint and the Sinner Lady hat das bei mir ausgelöst, und noch ein paar andere Alben. Es gibt Erlebnisse, an die man sich sein ganzes Leben lang erinnert, wie der erste richtige Orgasmus. Und der ganze Sinn dieser absurden, mechanischen Beschäftigung mit aufgenommener Musik ist das Streben nach diesem unbezahlbaren Moment. Es ist also nicht so, dass Musik den Verstand aus den Angeln hebt, sondern eher so: wenn einen schon irgendetwas die Wände hochgehen lässt, kann es eben genauso gut eine Platte sein. Weil die beste Musik stark ist und dich leitet und reinigt und das Leben an sich ist.
Die ehrlichste Autobiographie, die ich schreiben könnte, und ich weiß, dass das auch für viele andere gilt, würde hauptsächlich an Plattentheken stattfinden, an Jukeboxen, auf dem Fahrersitz Gas gebend, während ein Morgenmagazin auf dich einprügelt, in schlaflosen Nächten weit nach Mitternacht, alleine unter Kopfhörern mit ausgedehnten Brücken in phantastischen Landschaften und engelsgleichen Chören im Kopf, oder im großen gütigen Schoß Amerikas sitzend, stoned oder auch nicht, während du dir auf die Schenkel klatschst und dich gut fühlst.
Also kaufte ich schließlich mit dem Mut des Wahnsinnigen die Count Five. Ich glaube, den Ausschlag gab ein Fanmagazin für Teenager (damals die einzige Möglichkeit für den hartgesottenen Hörer, wenn man herausfinden wollte, was mit den neuen Produkten los war), das ich gelesen hatte. Count Five hatten ›eine Million Dollar beim Kartenvorverkauf‹ abgelehnt, weil sie sonst das College hätten abbrechen müssen und deshalb, so ihr Manager, hätten alle Jungs eingesehen, dass das wichtigste eine gute Schulbildung sei. Zum Schreien! Das hat echt solchen Eindruck auf mich gemacht, dass ich das nächste Mal, als ich mir die Platten im Regal genauer ansah, schnaufte: ›Die Jungs, die wieder zur Schule gehen...‹ Das ist schon ein gewisses Unterscheidungsmerkmal – man stelle sich Mick Jagger vor, wie er, geplagt von plötzlichen Gewissensbissen, zwischen zwei Schluck Champagner in einer beim Jet-Set angesagten Location, plötzlich von der unausweichlichen Wahrheit wie vom Blitz getroffen wird: Junge, du brauchst einen Abschluss. Du magst vielleicht Millionär sein, aber glaubst du, du wirst den Rest deines Lebens Popstar sein? Sicher nicht. Was willst du in den langen Jahren des dunklen Herbstes machen? Willst du enden wie Turner in Performance, dir jemanden besorgen, der dir das Hirn wegbläst, weil dir gerade keine bessere Beschäftigung einfällt? Noch ist es nicht zu spät! Geh wieder an die London School of Economics und mach den Abschluss! Der Mensch braucht irgendeine Form von konstruktiver Arbeit, sonst ist er ein bedeutungsloser, ehrenloser Nichtsnutz. Also kippt Mick den restlichen Champagner runter, löst sich von dem süßen Ding an seiner Seite und rennt los, um sich einzuschreiben. Schließlich macht er seinen Abschluss in Kunst, und als die Stones sich auflösen, lässt er sich häuslich nieder und lehrt einer endlosen Reihe eifriger Plagen das Malen einer geraden Linie. Was für ein leuchtendes Beispiel! Vielleicht wäre er vom Papst gesegnet oder ins Weiße Haus eingeladen worden! Aber das alles wird natürlich nie passieren, denn Mick Jagger ist aus härterem Holz geschnitzt als Count Five.
Ich kaufte das Album. Am selben Tag wie Happy Jack von The Who. Ich stürzte nach Hause, fand an Happy Jack Gefallen und kotzte bei Psychotic Reaction.
Aber Psychotic Reaction war das Album, auf das ich immer wieder zurückkam. Ich spielte es etwa ein Jahr lang oft und voller Schadenfreude, bis es mir von ein paar Bikern gestohlen wurde, und als ich es dann 1971 in einem Second-Hand-Plattenladen wieder entdeckte, Mann, da sprang ich hoch und machte ein Freudentänzchen. Aber dann tat ich etwas merkwürdig Kleinliches und Geiziges. Es stand im $ 1,98 Regal, direkt neben Platten wie Cosmo’s Factory und Deja Vu, und irgendwie kam mir das unangemessen vor – es hätte in der 89-Cent-Grabbelkiste stehen müssen, da wo es hingehörte, zusammen mit all den anderen abgehalfterten Altlasten aus vergangenen Tagen, zwischen Doin’ the Bird von den Rivingstons, das ich auch kaufte, und 96 Tears, das tatsächlich dort stand und meine Meinung bestätigte, offensichtlich hatte der Angestellte dieses Mal genug Verstand, es dort hinzustellen, wo es sich am besten aufgehoben fühlen würde. (Wenn euch diese Personalisierung irritiert, keine Bange: Als ich in der Siebten war, besuchte ich die Stadt, in der ich das Jahr zuvor gelebt hatte, und holte den Mr. Lucky-Soundtrack von Henry Mancini ab, den ich vor dem Umzug einem Freund geliehen und vergessen hatte abzuholen. Als ich wieder zu Hause war, stellte ich das Mr. Lucky-Album ins Plattenregal neben seinen ehemaligen Nachbarn, das Peter Gunn-Album. Wie ich so auf sie hinuntersah, wurde mir ganz warm ums Herz. Ich dachte, dass sich die beiden alten Freunde, so ziemlich die ersten Platten, die ich mir gekauft hatte, bestimmt freuen würden, sich nach so langer Zeit endlich wieder zu sehen. Vielleicht hatten sie sich ja auch ein paar interessante Geschichten zu erzählen.)
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