Lester Bangs - Psychotische Reaktionen und heiße Luft

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Lester Bangs ist 'die' große Rock-Kritiker-Legende in Amerika. Geboren 1948, arbeitete er ab 1971 fünf Jahre lang beim Rockmagazin Creem und beeinflusste mit seinem neuen subjektiven Stil eine ganze Generation junger Autoren. Bangs ging 1976 als freier Journalist nach New York, schrieb u.a. für den Rolling Stone und gründete die Rockgruppe «Lester Bangs and the Delinquents». In seinen Reportagen, Kritiken, Glossen und Fragmenten entdeckt er in «Wild Thing» von den Troggs eine Art unkontrolliertes Lebensmanifest für die Zukunft. Er bewundert Richard Hell, analysiert den Mythos von Elvis, reektiert sein schwieriges Verhältnis zu Lou Reed, begleitet die Clash auf Tour, schreibt über Iggy Pop and the Stooges, David Bowie, Kraftwerk, PIL u.a. Mit seinen gnadenlos subjektiven Urteilen und vehementen Verurteilungen, Beleidigungen und großen Lobeshymnen war er der Gonzo-Autor des Rock-Journalismus, der wie kein anderer um die Faszination und Anziehungskraft der neuen Musik wusste. Lester Bangs starb am 30. April 1982 an einer Tablettenunverträglichkeit.

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Lester Bangs

Psychotische

Reaktionen

und heiße Luft

Rock‘n‘Roll als Literatur und

Literatur als Rock‘n‘Roll

Ausgewählte Essays

Herausgegeben von Greil Marcus

Aus dem Englischen von Astrid Tillmann, Peer Schmitt, Teja Schwaner u.a.

- FUEGO -

Brief an Dave Marsh, Januar 1986

Absender:

Die Wolke von

Lester Bangs

Marsh,

Du kennst doch das ganze Gequatsche von wegen, »wenn es einen Rock’n’Roll Himmel gibt, dann spielt dort eine höllenmäßige Band?« Glaub den Scheiß bloß nicht, Kumpel.

Die ganz Großen sind ohne Umwege in die Hölle gekommen. Ausnahmslos. Die Stars hier oben sind Jim Croce, Karen Carpenter, Cass Elliot und ganz besonders ... Bobby Bloom! Es ist ein Alptraum! Wenn ich mir nur noch ein einziges Mal dieses verfluchte „Montego Bay“ anhören muss, bringe ich mich um ... (scheiße, ich vergesse es immer wieder).

Wie dem auch sei, alle sechs Monate stelle ich einen Antrag, um in die Hölle aufgenommen zu werden, aber sie lehnen mich immer mit der Begründung ab, ich sei zu gutherzig. Zieh dir das mal rein. Schreib ihnen und klär sie mal auf. Bitte! Sag ihnen, was für ein Arschloch ich sein kann, wenn mir danach ist. Und sag Uhelszki, dass sie dasselbe tun soll. Und Marcus. (Setze ihn doch bitte auch darüber in Kenntnis, dass ich es großartig finde, dass er sich durch mein ganzes altes Geschreibsel kämpft.)

Als ich hier ankam, habe ich Gott getroffen. Hab’ ihn nach dem Warum gefragt, ich meine, 33 und überhaupt. Er hat nur ein Wort gesagt: »M.T.V.« Er wollte mir das ersparen, was zum Teufel auch immer es sein mag.

Ich muss los. Buchstäblich. Noch eine Horde grauhaariger Harfenzupfer ist im Anmarsch. Die spielen natürlich Zeps »Stairway«, die scheiß Nationalhymne in diesem Kaff. Ich kann einfach nicht glauben, dass hier niemand auf The Elgins steht.

Lass es dir gesagt sein, Dave. Der Himmel war Detroit, Michigan. Wer hätte das gedacht?

Ewig dein,

Bangs

Einführung und Danksagung Greil Marcus Biographie Lester Bangs wurde 1948 in - фото 1

Einführung und

Danksagung

Greil Marcus

»Biographie: Lester Bangs wurde 1948 in Escondido, Kalifornien geboren. Er wuchs im kalifornischen El Cajon, was im Spanischen ›Kiste‹ bedeutet, auf, wo er als Tellerwäscher, Verkäufer von Frauenfreizeitbekleidung und Aushilfe in einem familienbetriebenen Kunstblumendekorationsgeschäft arbeitete, während er freiberuflich Plattenkritiken schrieb und vorgab, aufs College zu gehen, bis er 1971 nach Detroit zog und beim Creem Magazine anfing. In den fünf Jahren, in denen er dort in unterschiedlichen redaktionellen Funktionen und als journalistischer Leiter arbeitete, prägte er einen Stil des kritischen Journalismus, der sich auf Klang und Sprache des Rock’n’Roll gründete und eine ganze Generation von jüngeren Schriftstellern und vielleicht auch Musikern beeinflussen sollte. Er verließ Creem 1976 und zog nach New York, wo er freiberuflich arbeitete. Dort wurde er auch Bandleader von zwei Rock’n’Roll-Bands der Manhattaner Klubszene und begann, Aufnahmen seiner ursprünglichen Rock’n’Roll-Kompositionen mitzuschneiden (er schreibt Texte, singt und spielt Harmonika, und weiß, dass ›All my melodies are the same melody, and that’s a blues‹), deren erste Let It Blurt / Live Anfang 1979 bei Spy erschien. Im Moment arbeitet er an einem Album...«

Das schrieb Lester Bangs ein oder zwei Jahre bevor er 1982 starb. Dieser Tatsache ist es geschuldet, dass nun jede andere Biographie detaillierter ausfallen muss: Er wurde am 14. Dezember 1948 geboren; er starb am 30. April 1982 eher versehentlich an den Komplikationen einer durch Grippe verursachten Atem- und Lungenwegserkrankung und der Einnahme von valiumhaltigen Schmerzmitteln. Der Name des Geschäfts, wo er Freizeitbekleidung für Frauen verkaufte, war Streicher’s Shoes, Mission Valley Shopping Center; sein Album wurde 1981 unter dem Titel Juke Savages on the Brazos von Lester Bangs and the Delinquents bei Live Wire veröffentlicht, obwohl er auch überlegte, es Jehovah’s Witness zu nennen, nach dem Glauben, zu dem seine Mutter nach dem Tod seines Vaters 1955 konvertiert war. »Lester sagte mal, dass darin auch seine Herangehensweise als Rockkritiker bestand«, schrieb mir Frances Pelzman, als die Arbeit an diesem Buch begann, »er versuche immer, die Leute zu bekehren.« Sein Tod provoziert natürlich auch müßige Spekulationen: Warum hat er unter all den Details, die er in einer aus nur einem Absatz bestehenden Biographie unterbringen konnte, ausgerechnet erwähnt, dass El Cajon »Kiste« bedeutet. Lag es daran, dass Kiste ein alter Slangbegriff für Plattenspieler ist oder weil der Name so etwas wie Gefangenschaft bedeutete, der er nie entkommen zu können glaubte?

Es ist nicht leicht, über einen toten Freund zu schreiben, ohne in Sentimentalitäten oder ins Melodramatische abzurutschen; Melancholie wäre wahrscheinlich die ehrlichste Tonart, aber sie ist am schwierigsten zu treffen. Meine Aufgabe ist, die Bedeutung von Lester Bangs’ Arbeit hervorzuheben, zu erklären, warum diejenigen, die ihn seinerzeit nicht gelesen haben, das nachholen sollten, warum seine Arbeit das Leben eines jeden bereichert, der es auch nur halbwegs individuell gestalten will, und obwohl ich glaube, dass Lesters Texte genau das bewirken würden, bringe ich gerade das nicht fertig. Es wirkt herablassend, und zwar sowohl dem Leser als auch seinen Texten gegenüber; es schmerzt mich, dass Lester es für nötig befunden hatte, für seine Arbeit aufgrund ihres Einflusses zu werben, so echt und überwältigend dieser auch gewesen sein mag, und nicht aufgrund ihres Wertes. In einer weiteren Selbstdarstellung, die ungefähr zur gleichen Zeit erschien wie die erste, schrieb er: »Ich war offensichtlich brillant, ein begnadeter Künstler, ein sensibles männliches Wesen, das keine Angst davor hatte, seine Verletzlichkeit zu zeigen, einer der wenigen Leute, die wirklich begriffen hatten, was mit unserer Kultur nicht stimmte und warum sie deshalb auch keine Zukunft haben konnte (ein Thema über das ich bereits sprach/zu dem ich unaufhörlich improvisierte Reden hielt, vor allem betrunken, was oft, wenn nicht jede Nacht, der Fall war), ein attraktives kleines Arschloch, dazu noch gut im Bett, obwohl ich selbstverständlich mit einer von meinem Geschlecht und meinem Alter völlig unabhängigen Weisheit gesegnet war. Und ich wusste, dass das natürlich überhaupt keine Rolle spielte, ich war witzig, hatte einen abgefahrenen Sinn für Humor, ein wirklich einzigartiges, unberechenbares Individuum, ein praktizierender Rock’n’ Roller mit eigener Band, wenn nicht heute, dann vielleicht morgen, ein Anwärter auf den Titel Bester Schriftsteller Amerikas (wer war besser? Bukowski? Burroughs? Hunter Thompson? Ach, Blödsinn! Ich war der Beste. Ich schrieb fast nichts außer Plattenkritiken, und davon auch nicht viele...« Er meinte das natürlich nicht wirklich ernst, jedenfalls nicht bis dahin, wo die Klammer aufging (er hat sie nie geschlossen); da hat er einfach die Wahrheit gesagt. Vielleicht verlangt dieses Buch dem Leser die Bereitschaft ab zu akzeptieren, dass der beste Schriftsteller Amerikas praktisch nichts außer Plattenkritiken schreiben konnte.

Ich weiß auch nicht, was ich von den Behauptungen vor der Klammer halten soll. Wie Tausende andere auch, kannte ich Lester hauptsächlich über seine Texte. Wir waren vielleicht innige Freunde, aber keine engen. 1969 war ich sein erster Redakteur beim Rolling Stone; nachdem er Kalifornien gegen Detroit und New York eingetauscht hatte, haben wir uns vielleicht ein halbes Dutzend Mal getroffen, doppelt so häufig miteinander telefoniert und noch mal doppelt so oft miteinander korrespondiert. Wir sprachen lange darüber, ob ich ein Buch über seine Arbeit herausgeben sollte.

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