Die erste der zitierten biographischen Skizzen stammt aus dem Manuskript einer Sammlung von Lesters veröffentlichten Texten über Rock’n’Roll, die er 1980 oder 1981 zusammenstellte. Die einzig zugesicherte Veröffentlichung war die eines deutschen Verlags; der Arbeitstitel lautete »Psychotic Reactions and Carburetor Dung«. Obwohl der Titel identisch ist, handelt es sich hier nicht um das nie erschienene Buch, er ist vielmehr eine Widmung an Lester, und weite Teile seiner Auswahl sowie einige Kapitelüberschriften wurden beibehalten; ein große Menge bisher unveröffentlichten Materials kam dazu. Lesters Buch sollte dem Zweck dienen, eine Periode aus einer noch langen und unvorhersehbaren Karriere zusammenzufassen. (Kurz bevor Lester starb, wollte er nach Mexiko, um dort einen Roman »All My Friends Are Hermits« zu schreiben, obwohl ich nicht – wie einige, die ihm viel näher standen als ich, behauptet hatten – auch nur eine Sekunde daran glaubte, dass er aufhören würde, über Musik zu schreiben.) Sein Buch sollte kein Vermächtnis darstellen; das aber ist gerade die Aufgabe dieses Buches.
1958 kaufte Lester seine erste Platte (TV Action Jazz von Mundell Lowe and His All-Stars, erschienen bei RCA Camden); von da an verschlang er jedes Stück tontragendes Plastik, das er kriegen konnte. »Die Kindheitsphantasie, an die ich mich am besten erinnere«, schrieb er einmal, »war eine Villa, darunter Katakomben, die in endlosen, gewundenen, schlecht erleuchteten, muffigen Reihen jedes Album in alphabetischer Reihenfolge enthielten, das jemals veröffentlicht worden war.« Ungefähr zur gleichen Zeit begann er, regelmäßig zu lesen; er wurde zum jugendlichen Beatnik. Jack Kerouac und William S. Burroughs waren seine Helden und Lehrer. Er kaufte ihre Mythen von Verschwendung und Wiedergutmachung, Rausch und Erleuchtung. Ihre Bücher und die Platten aller anderen machten ihn zum Schriftsteller.
Lester Bangs’ erster veröffentlichter Text, abgesehen von Gedichten in den Literaturmagazinen seiner High School, war eine Plattenkritik über Kick Out the Jams von den MC5, im Rolling Stone am 5. April 1969. Er hatte den Text unverlangt eingeschickt, ein brutaler, unwiderlegbarer Angriff, Lester war als Rock’n’Roll-Fan dem Hype gefolgt, hatte das Album gekauft, sich betrogen und ausgenutzt gefühlt, und zurückgeschlagen. Ein guter Anfang für jeden Kritiker. (Später lernte er Album und Band lieben. Das war typisch. »Ich mache immer wieder kehrt«, sagte er in einem Interview zu Jim DeRogatis auf die Frage, ob seine Herangehensweise an Rock’n’Roll auf der Überzeugung beruhe, dass diese Musik nicht Kunst sei: »Wir können über Trash, Ästhetik und so weiter reden ... Natürlich ist das Kunst.«) Im Juni 1969 begann Lesters und meine Zusammenarbeit; in einem seiner ersten Briefe an mich (bezugnehmend auf die fünf, zehn, fünfzehn Plattenkritiken, die dann wöchentlich eintrafen) schrieb er: »Um es kurz zu machen, am liebsten würde ich das ganze Ding in die Luft jagen und nochmal von vorn anfangen.« Und das tat er dann auch.
Lester veröffentlichte über hundertfünfzig Kritiken im Rolling Stone (zwischen 1969 und 1973, bis der Herausgeber Jann Wenner ihn wegen Respektlosigkeit den Musikern gegenüber sperrte; und dann wieder ab 1979, als der Ressortleiter für Plattenkritiken, Paul Nelson, seine Rehabilitierung durchsetzte), aber beim Rolling Stone genoss er nie wirkliche Freiheiten. Bei Creem, dem Rock’n’Roll-Magazin, das im Umfeld von John Sinclairs White Panther Party entstanden war, fand er diese Freiheit, zumindest für eine gewisse Zeit: es bot Lester Raum für weitschweifige Tiraden, Beschimpfungen, Verhöhnungen, Hirngespinsten, Zornesausbrüchen und Freudengeheul. Anfangs als freier Autor und dann als redaktioneller Leiter führte er das Magazin in einen subversiven Sog im unerbittlichen kommerziellen Strom des Rockgeschäfts; zusammen mit dem Herausgeber Dave Marsh entdeckte, erfand, pflegte und förderte er eine Ästhetik freudvoller Geringschätzung, eine Liebe zum offensichtlichen Trash und eine Verachtung aller Heucheleien, die 1976 und 1977 mit den Ramones und dem CBGB’s in New York und den Sex Pistols in London den Namen annahm, den er ihr gegeben hatte: Punk. Er war ein Mann mit einer Mission, er grub zwischen 1970 und 1976 alles aus; Creem bedeutete mehr als hundertsiebzig Sonderbeiträge, unzählige Bildunterschriften (einige seiner besten Kreationen, Entmystifizierungen von Superstars, die direkt zu den Ramones und Sex Pistols führten, wie seine Kritiken und Beiträge), zahllose Antworten auf Leserbriefe, den Schrott ausgenommen.
Lester wurde zu einer Persönlichkeit in der Welt des Rock’n’Roll, in ihrem abgegrenzten Raum wurde er eine Berühmtheit. Kiffend und trinkend, spaßend und beleidigend, grausam und vorführend, immer für einen Lacher gut, wurde er zum unentbehrlichen wilden Mann des Rock, eine Ein-Mann-Orgie der Hemmungslosigkeiten, Exzesse, Weisheiten, Satire, Parodie – das ausgelebte oder geschriebene schlechte Gewissen jeder Band, über die er eine Kritik schrieb oder die er interviewte. Er ging zu einem Interview, bereit, jede Band, die gerade in der Stadt war, zu provozieren; und jede Band, die gerade in der Stadt war, versuchte ihn zu provozieren. Zu dem Zeitpunkt, als er nach New York zog – wo er eine aufkeimende Punkszene vorfand, die im Begriff stand, all seine Hoffnungen und Jeremiaden zu erfüllen –, war er ein allseits umschwärmter Mann. Ein Mann, von dem man stolz war, sagen zu können, man habe ihm einen Drink spendiert oder Drogen gegeben.
In seinem letzten Jahr an der High School hatte Lester sich einer merkwürdigen Kur, bestehend aus dem Hustensaft Romilar und Belladonna, unterzogen. Als ein Arzt ihm sagte, er mache Gevatter Tod den Hof, ging er dazu über, Speed zu schießen. Er wurde Alkoholiker, und zwar ein richtiger. Nach einigen Jahren konnte er einen ganzen Raum verpesten. Er ließ die Finger von den gängigen Drogen (LSD, Kokain, oder was auch immer zum jeweiligen Zeitpunkt gerade angesagt war); Heroin hat er nie genommen. Trotzdem war er lange Zeit so etwas wie sein eigener Junkie. In seinem letzten Lebensjahr hatte er aufgeräumt; fast keine Drogen mehr, wenig mehr als ein Bier, was aber häufig genug einen Anfall von Selbsthass mit sich brachte. Er trat den Anonymen Alkoholikern bei; er hatte viel vor. Ich glaube immer noch, dass die Radikalität, mit der er seinen Lebensstil zu ändern versuchte, seinen Körper zerrüttet hat, sie machte ihn anfällig für die leichteste Unregelmäßigkeit, ob gewöhnliche Bazillen oder eine normale Dosis eines für jeden anderen alltäglichen Schmerzmittels; dass er sein System mit plötzlicher Gesundheit schockte, war das, was ihn umbrachte.
In Detroit und noch mehr in New York hatte Lester ein Image, dem er gerecht werden musste. Manchmal versuchte er, ihm nachzukommen und dann kämpfte er wieder dagegen an. Er erfand sich immer neu. Aber die Veränderung in seiner Schreibweise zwischen Detroit und New York ist offensichtlich. In Detroit veröffentlichte er vorwiegend seine ersten Entwürfe, hämmerte den Beat seiner automatischen Inspiration; in New York begann er langsamer zu arbeiten, schrieb einen Artikel wieder und wieder, verfolgte ein Thema über das fünf- bis zehnfache seiner publizierbaren Länge hinaus, strich dann wieder oder fing von vorn an. Moralismus im besten Sinne – der Versuch zu verstehen, was wichtig ist, und dieses Verständnis anderen in einer Form mitzuteilen, die den Leser genauso fesselt wie unterhält –, der gegen Ende seiner Beschäftigung bei Creem auftauchte und in New York bei Village Voice seinen Platz fand. Zeitgleich publizierte er in obskuren Fanzines, Hochglanzmagazinen und Tageszeitungen, aber seine öffentliche Stimme blieb matt, kategorisiert; er war ein Rockkritiker, was sollte also all dieses andere Zeug, all diese Seiten über Sex, Liebe, den einfachen Mann auf der Straße, Weltanschauung, Tod, Abenteuer?
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