1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 1.2.2 Analysen exemplarischer Einspielungen
Sind einzelne stilprägende und einflussreiche Einzelwerke bzw. Einspielungen mit Relevanz für die Gitarre erst ermittelt und systematisiert, dann ergeben sich für eine folgende Analyse weitere Fragen: Sollen alle oder nur ein Teil der Einzelwerke einer Analyse unterzogen werden? Anhand welcher methodischen Ansätze sollen die Analysen erstellt werden? Welche traditionellen musikwissenschaftlichen Ansätze, welche modernen Ansätze aus dem Bereich der Popularmusikforschung stehen zu Verfügung und werden der Problematik gerecht? Sollten für die vorliegende Sachlage fallspezifische Methoden entwickelt werden? Eine funktionierende Methode sollte Antworten geben können auf Fragen: Was sind die formalen, rhythmischen, melodischen und harmonischen Besonderheiten der Einspielung? Welche Besonderheiten gibt es bzgl. Instrumentierung, Arrangement, Produktion und Sound? Was macht den Gitarrenpart der Einspielung stilspezifisch interessant und im Vergleich zu anderen gitarristischen Erscheinungen der Ära herausragend, wegweisend oder innovativ?
Eine wesentliche Grundlage der Analyse ist die Erstellung einer präzisen Transkription aller relevanter Stimmen bzw. Instrumente, insbesondere der Gitarren, einer Einspielung. Sämtliche im weiteren Verlauf der Arbeit dargestellten Transkriptionen wurden zu diesem Zweck vom Autor auf Grundlage der Originaleinspielungen erstellt. Angaben zum methodischen Aufbau und die eigentlichen Analysen sind in Kap. 3 niedergeschrieben.
1.2.3 Suche nach musikalischen Einflüssen auf und von einer spezifischen Einspielung
In einem abschließenden Teil soll der Einfluss auf eine spezifische Einspielung und der Einfluss von einer spezifischen Einspielung auf nachfolgende musikalische Werke der Populärmusik untersucht werden. Aus dieser Aufgabenstellung ergeben sich folgende Fragen: Welche Indikatoren können als Hinweis auf einen möglichen Einfluss gewertet werden? Anhand welcher Kriterien kann ein möglicher Einfluss als wahrscheinlich gelten oder sogar zweifelsfrei nachgewiesen werden? Auf welchen Wirkungskreis ist ein möglicher Einfluss sinnvoll zu begrenzen (USA, englischsprachige Länder, westliche Welt, Datum der Veröffentlichung bis zur Gegenwart)? Exisiert eine natürliche, eventuell prognostizierbare Demarkationslinie, an der der Einfluss eines stilprägenden und vormals einflussreichen Werkes, Personalstils oder Signature-Licks endet oder verebbt? In diesem Teil der Arbeit könnte die Evolution einer gitarristischen Rock and Roll-Phrase, also eines charakteristischen Riffs oder Licks der Ära vom ersten nachweisbaren Erscheinen zum Signature-Lick bzw. musikalischen Allgemeingut entwickelt werden und falls möglich, eine Art Stammbaum oder Typologie nachgezeichnet werden.
Abschließend sollte es nach dieser Betrachtung möglich sein die musikstilistisch charakteristischen Merkmale der Rock and Roll-Gitarre zu beschreiben und den Spielstil musikhistorisch und instrumentenspezifisch zu verorten. Die Untersuchungen zum Einfluss auf und dem Einfluss von einem Werk werden direkt im Anschluss an die jeweiligen Analysen in Kap. 3 präsentiert.
2. Selektion der Werke
2.1 Theoretische Grundlagen zur Erstellung einer Auswahl repräsentativer Werke
2.1.1 Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis
Die folgenden Überlegungen beziehen sich zu einem großen Teil auf die Theorien des deutschen Ägyptologen Jan Assmann (1997). Ausgehend von dem von Maurice Halbwachs in den 1920er Jahren entwickelten Begriff „Kollektives Gedächtnis“ hat Assmann den Dualismus zwischen „Kommunikativem und Kulturellem Gedächtnis“ entwickelt und seine Erkenntnisse aus der Altertumsforschung zu einer allgemeinen Theorie von kultureller Erinnerung zusammengefasst, die unter anderem die Themen Kanon und Kanonbildung, Traditionsstrom, Ritual, Identität usw. detailliert erläutert. Assmanns Theorien sind die zum heutigen Zeitpunkt aktuellsten, umfassendsten und einflussreichsten Überlegungen zum Thema (Erll 2005) und lassen sich ohne große Schwierigkeiten auf kulturelle Prozesse des 20. Jahrhunderts übertragen. Sie sollen daher als theoretischer Ausgangspunkt für die nachfolgenden Betrachtungen dienen. Assmanns grundsätzliche Zweiteilung des kollektiven Gedächtnisses in die Pole kommunikatives und kulturelles Gedächtnis wird im Folgenden kurz tabellarisch dargestellt.
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kommunikatives Gedächtnis |
kulturelles Gedächtnis |
Inhalt |
Geschichtserfahrungen im Rahmen individueller Biographien |
mythische Urgeschichte, Ereignisse einer absoluten Vergangenheit |
Formen |
informell, wenig geformt, naturwüchsig, entstehend durch Interaktion, Alltag |
gestiftet, hoher Grad an Geformtheit, zeremonielle Kommunikation, Fest |
Medien |
lebendige Erinnerung in organischen Gedächtnissen, Erfahrungen und Hörensagen |
Feste Objektivationen, traditionelle symbolische Kodierung/Inszenierung in Wort, Bild, Tanz usw. |
Zeitstruktur |
80-100 Jahre, mit der Gegenwart mitwandernder Zeithorizont von 3-4 Generationen |
absolute Vergangenheit einer mythischen Urzeit |
Träger |
unspezifisch, Zeitzeugen einer Erinnerungsgemeinschaft |
spezialisierte Traditionsträger |
Abb. 2: Polarität von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis (Assmann 1997, S. 56)
Das kommunikative Gedächtnis umfasst Erinnerungen, die sich auf die rezente Vergangenheit beziehen. „Es sind dies Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt. […]. Es entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer: mit seinen Trägern. Wenn die Träger, die es verkörpern, gestorben sind, weicht es einem neuen Gedächtnis. Dieser allein durch persönlich verbürgte und kommunizierte Erfahrung gebildete Erinnerungsraum entspricht […] ca. 80 Jahren.“ (Assmann 1997, S. 50). Dem gegenüber steht das kulturelle Gedächtnis, das sich auf Fixpunkte in der Vergangenheit richtet. „Auch in ihm vermag sich Vergangenheit nicht als solche zu erhalten. […]. Der Unterschied zwischen Mythos und Geschichte wird hier hinfällig. Für das kulturelle Gedächtnis zählt nicht faktische sondern nur erinnerte Geschichte“ (Assmann 1997, S. 52).
Für unsere Betrachtung interessant sind Assmanns Ausführungen zum kommunikativen Gedächtnis, das nach etwa 3-4 Generationen oder 80-100 Jahren mit dem sogenannten „floating gap“ (benannt durch Jan Vansina, 1985) fließend in das kulturelle Gedächtnis übergeht. Innerhalb dieser 80-100 Jahre kommt es zu einem interessanten Phänomen, denn es scheint sich in der Mitte dieses Zeitraums nach 40 Jahren eine „kritische Schwelle“ (Assmann, S. 51) zu bilden. Laut Assmann treten nach diesem Zeitraum „die Zeitzeugen, die ein bedeutsames Ereignis als Erwachsene erlebt haben, aus dem eher zukunftsbezogenen Berufsleben heraus und in das Alter ein, in dem die Erinnerung wächst und mit ihr der Wunsch nach Fixierung und Weitergabe.“ (Assmann 1997, S. 51) Wir werden sehen, ob und wenn ja in welcher Form dieses Phänomen auch im Rahmen unserer Forschungen nachzuweisen sein wird.
2.1.2 Kanon und Kanonbildung
Die Erstellung einer repräsentativen Auswahl musikalischer Werke, wie sie im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit unternommen wird, könnte als Bildung eines Kanons mißverstanden werden. Allerdings ist der entscheidende Schritt einer Kanonbildung in seinem ursprünglichen Sinn der Akt der Schließung. Mit diesem ultimativen Akt wird der gebildete Kanon unabänderbar, in Folge dessen auch nicht mehr fortschreibbar und entfaltet damit seinen normativen und formativen Charakter, der durch seine Deutung von Interpreten an Adressaten vermittelt wird.
Für die in dieser Arbeit unternommene Suche nach einflussreichen und stilprägenden Instrumentalparts der Rock and Roll-Ära kann der Versuch einer Kanonbildung nicht das Ziel sein. Da die Stilistik des Rock and Roll und die dazugehörigen instrumental-musikalischen Äußerungen in den 1950er Jahren stattfanden, liegt dieser Zeitraum aus heutiger Sicht noch deutlich in dem von Assmann als kommunikatives Gedächtnis beschriebenen Zeitrahmen (3-4 Generationen bzw. 80-100 Jahre). Die von ihm beschriebenen Attribute des kommunikativen Gedächtnisses (informell, wenig geformt, naturwüchsig, entstehend durch Interaktion, Alltag, lebendige Erinnerung in organischen Gedächtnissen, Erfahrungen und Hörensagen) treffen ohne große Einschränkungen zu, das Thema befindet sich wortwörtlich noch in Kommunikation. Auch hat hier in keiner erkennbaren Weise ein Akt der Schließung stattgefunden. Allein die noch immer unbeantwortete und somit offenen Frage „Was ist Rock and Roll?“ des Eingangskapitels dieser Arbeit untermauert diese These. Doch wenn wir nicht nach dem Kanon des Rock and Roll suchen, wonach suchen wir dann?
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