In einem lichtdurchfluteten Raum hielt Gottwald unvermittelt an.
Außer einem weißen Sofa und einem Glastisch war nur ein Plasmabildschirm zu sehen.
Die Hände hatte Gottwald nicht aus den Taschen genommen.
Er bot den ungebetenen Besuchern nicht an, Platz zu nehmen.
»Und?«, fragte er aggressiv.
»Wir haben ein paar Fragen zu deinem gestrigen Ausflug mit Simone«, eröffnete Sven, dem bewusst wurde, dass der Vater wider Erwarten noch nicht über den Tod der Tochter informiert worden war – oder versuchte er nur, diesen Anschein zu erwecken?
»Hat sie es also wirklich getan! Agneta, diese Hexe! Sie drohte mir auf der Mailbox, sie wolle die Polizei auf meine Fährte hetzen. Ich hätte Simone etwas angetan! Und die Polizei lässt sich tatsächlich auf so etwas ein!« Er lachte dröhnend. Sein überaus beeindruckender Bauch hüpfte dabei rhythmisch auf und nieder. »Was für eine Farce!«
Der Mann stellte sich ans Fenster und sah in den Garten hinaus. »Diese schreckliche Person! Zu schade, dass ausgerechnet diese widerliche Frau Simones Mutter ist!«, meinte er zynisch und zog unbewusst den Oberkörper zurück, schob das Becken vor.
Sven beeindruckten derartige Dominanz- und Potenzgesten nicht. Aber er registrierte sie aufmerksam. Der Körper war manchmal ein richtiger Verräter.
Gern hätte er ihn gefragt, warum er Agneta geheiratet hatte, wenn sie so unausstehlich war – aber das gehörte natürlich nicht hierher.
»Simone kam gestern nicht pünktlich nach Hause zurück.« Lars’ Ton war schneidend.
»Ja, das passiert schon mal. Aber eigentlich muss sie sich große Mühe gegeben haben, auf den paar Metern bis zur Haustür noch zu spät zu kommen«, grinste der Vater süffisant und sah Lars direkt ins Gesicht.
»Du hast deine Tochter also zeitgerecht zurückgebracht?«, hakte Sven nach.
»Ja. Selbstverständlich. Sie sprang aus dem Wagen und ich winkte ihr nach. Warum Agneta so ein Gezeter gemacht hat, kann ich auch nicht erklären.« Jetzt schlich ein Ausdruck von Besorgnis in das Gesicht des Vaters. »Stimmt was nicht?«
»Es tut uns leid, Gottwald. Wir haben Simone heute am frühen Morgen tot aufgefunden.«
Der Vater räusperte sich.
»Tot? Tot aufgefunden? Was soll das bedeuten?«, stolperten Fragen unbeholfen hervor.
»Sie lag in einem Einkaufswagen. Vor dem Köpcenter in der Bratteråsgatan.«
Gottwald zog die feisten Finger aus den Hosentaschen und fuhr sich über die Lippen, als versuche er, unbedachte Äußerungen zurückzudrängen. Einen Augenblick lang schloss er die Augen, ein gequälter Ausdruck veränderte seine Züge wie ein flüchtiger Schatten, dann atmete er tief durch.
»Simone war es leid, dass ich sie wie ein Kleinkind an die Hand nehmen und bei ihrer Mutter abgeben musste«, erzählte er leise. »Ich habe das verstanden. Sehr gut sogar. Mit zwölf will man so etwas nicht mehr. Zur Schule bringt sie ja auch keiner! Sie hüpfte aus dem Auto und lief los. Nur ein paar Meter!«
»Warum hast du Agneta nicht zurückgerufen, als sie dir auf der Mailbox diese Drohung hinterlassen hatte?« Knyst beobachtete den Mann genau.
»Ich ging davon aus, dass die Sache längst geklärt und Simone bei ihr zu Hause war.« Gottwald stöhnte. »In einem Einkaufswagen? Also Mord! Wer hat das getan?« Ohne Vorwarnung war die aggressive Haltung zurück. »Wann?«
»Das versuchen wir herauszufinden. Wir müssen Simones Tag rekonstruieren. Fangen wir mit dem an, was ihr zusammen unternommen habt.«
»Dann sollten wir besser in mein Arbeitszimmer gehen.« Gottwalds zu kurze Arme schwangen in Richtung der Tür. Die Geste wirkte resigniert, nicht einladend. »Ich stehe auf eurer Liste der Verdächtigen ganz oben, nicht wahr? Agneta hat behauptet, mir sei so etwas ohne weiteres zuzutrauen, habe ich Recht? Seit Jahren verbreitet diese Frau Lügen über mich, sie war deshalb sogar bei einem Psychologen. Geändert hat sich nichts!«, zischte der Vater wütend. »Agneta und ihre Hirngespinste!«
»Wenn sie so verwirrt ist, warum hast du Simone dann in ihrer Obhut gelassen?«, fragte Lars provozierend.
»Das war ja wohl auch ein Riesenfehler!«, gab Gottwald betroffen zurück. »Wer weiß, vielleicht hat sie selbst das Kind getötet, nur um mich und meine Zukunft zu zerstören. Agneta wäre jedes Mittel recht, um meine Hochzeit mit Ingelore zu verhindern! Sie ist krankhaft eifersüchtig! Psychopathin!«
Auch das Arbeitszimmer hatte Glasfronten zum parkähnlich angelegten Garten.
Auf dem gläsernen Schreibtisch stand aufgeklappt ein stylisches Notebook, an der Wand hing über einer schwarzen, kubistischen Couch ein überdimensioniertes, modernes Ölgemälde.
Lars musterte es skeptisch, bevor er sich setzte, als habe er die Befürchtung, es könne herunterfallen.
»Wir waren im Zoo.«
»Ist das nicht ein ungewöhnliches Ziel für eine 12-Jährige?«
»Simone wählte das Ziel aus«, antwortete Gottwald vorwurfsvoll. »Das haben wir schon seit der Scheidung so gehalten.«
»Sie wollte also gern in den Zoo. Gab es einen speziellen Grund dafür?«, wollte Lars wissen.
»Ja, den gab es tatsächlich. Ein kleines Nashorn. Simone war ganz verschossen in den Winzling.«
Gottwald starrte plötzlich geistesabwesend auf das bunte Bild hinter den Ermittlern und schwieg.
»Und außerdem?«, stieß Sven den Redefluss wieder an.
Der Vater zuckte heftig zusammen.
»Wir waren essen. Das ist mit Simone gar nicht so einfach. Ihre Mutter lässt ihr alle Launen durchgehen. Und so mag sie dies nicht und das noch weniger, weder scharf noch flau, ohne Fleisch, aber um Himmels willen nicht ständig Gemüse. Ihr versteht schon. Irgendwie hängen sie in dem Alter zwischen Baum und Borke fest.«
»Hat sie jemanden im Zoo getroffen? Aus der Schule vielleicht?«
Der schwere Mann grunzte ungehalten.
»Nein! Hört zu: Wir hatten einen ruhigen und entspannten Tag miteinander. Wie immer, wenn es nach Simones Kopf geht. Wir waren essen, zum Abschluss gab es Eis. Dann habe ich sie zu ihrer Mutter gebracht – wie immer. Gemeinsames Abendessen erlaubt Agneta uns nämlich nicht. Da ist sie genauso konsequent wie bei der Pünktlichkeit.« Trauer und Nachdenklichkeit schwangen in diesen Worten mit.
»Du hast uns schon erklärt, warum du Simone diesmal nicht direkt an der Wohnungstür abgeliefert hast«, leitete Lundquist seine nächste Frage ein. »Aber ich glaube nicht, dass der Wunsch deiner Tochter nach Selbstständigkeit dein einziger Grund war. Warum war es so leicht, dich zu überreden?«
Die Stille im Raum fühlte sich mit einem Mal unheilvoll an.
Gottwald schien das auch so zu empfinden.
Hektisch antwortete er: »Ja, ich habe sie an der Ecke rausgelassen. Und es war mir recht – sehr recht sogar! Ihr macht euch keine Vorstellung von dem Affenzirkus, den Agneta jedes Mal veranstaltete, wenn ich Simone zurückbrachte. Vorwürfe, Anschuldigungen, Nörgeleien, Unzufriedenheiten – an allem, was in ihrem Leben schiefging, trug ich ihrer Meinung nach die Schuld! Ich legte es nicht darauf an, ihr zu begegnen. Simone drehte sich zu mir um, winkte und ich fuhr los. Zu Ingelore. So schnell es ging. Ich wollte den Abend mit ihr genießen. Wir tranken Wein, sahen uns ›Hugo Cabret‹ von Scorsese im Kino an, kehrten dann wieder zu ihrer Wohnung zurück.« Gottwalds Stimme schwankte, als er bitter sagte: »Während ich unvergesslichen Sex hatte, brachte irgend so ein perverses Schwein mein einziges Kind um!« Er drehte sich mit Mühe aus dem Sessel, trat ans Fenster und wandte den beiden Ermittlern den breiten Rücken zu. Lundquist bemerkte einen feuchten Fleck zwischen den Schulterblättern auf Gottwalds Sakko. Warum schwitzte der Vater so? Wegen des Schocks über die Todesnachricht – oder gab es noch einen anderen Grund?
Vor der Terrassentür stolzierte ein nachtschwarzer Kater vorbei.
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