Woher kommt also dieses oberste Gebot auf der sinkenden Titanic ? Es kommt von Gott, durch Seine Propheten und durch die Gnade Jesu von Nazareth.
Das Vorbild der Selbstaufopferung, des Leidens des Messias‘. Die Regel, dass der Starke helfen muss, das Leid der Schwachen mit zutragen. Das göttliche Gebot, gegeben in den Worten »Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.«
Es braucht schon eine Katastrophe wie den Untergang der Titanic um im vollkommenen Gegensatz zu den Regeln des Materialismus‘ und der Selbstliebe handeln zu können.
Ich möchte nicht behaupten, dass dieses Ideal nicht auch in anderen Religionen vorkomme. Ich sage auch nicht, sie stünden dem entgegen. Ich verlange von keinem Menschen, meine Theologie (die, je älter ich werde, immer einfacherer Gestalt ist) zu akzeptieren, solange sein Herz ihn nicht zu mir führt. Aber ich sage: Das Ideal, dass den Starke die Stärke gegeben ward, um die Schwachen zu beschützen, das Ideal, dass ein Gebot wie »Frauen und Kinder zuerst« bewirken konnte, das liegt in unserer Übereinkunft zum Geiste Christi. Jeder Mann auf dem Schiff, ob Jude oder Christ oder namenloser Gläubiger, der diesem Vorbild folgte … ja, und all die Frauen, die ihr Leben für die Liebe ließen … trug ihn in sich, den gleichen Willen, den auch Jesus Christus hatte, und wurde somit zu einem Seiner Freunde.
Wenn das, was die Bibel sagt, wahr ist, dann ist auch dieses Ideal mehr als wahr. Andererseits kann man nur schwer Beweise dafür finden. Doch diese Tragödie stellt uns deutlich diese Frage. Denk darüber nach: Dient dieses Ideal dem Überleben in unserer Gesellschaft oder nicht?
Ohne es – kein Zweifel – wären wir reich und stark und mächtig. Aber was für eine Welt wäre dies! Nur durch den Glauben, dass der Starke dazu da sind, den Schwachen zu beschützen und ihm zu helfen – weil dies Gottes Wille ist – können wir selbstlos oder heldenhaft sein, lieben und all die Dinge erhalten, die uns Freude am Leben und keine Angst vor dem Tode geben.
Princeton, N.Y., 13. Mai 1912
Die zwei Titanen
VON FRED S. MILLER
Als die Titanic die Werft verließ um ihre einzige Reise anzutreten, waren alle, die sich an Bord befanden, von tiefen Gefühlen erfüllt. Sklaven, die schwitzend in der Gluthitze der Kesselräume schufteten, erfolgreiche Geschäftsmänner auf den luftigen Oberdecks und vergnügungssüchtige Millionäre, denen das Schiff unendlichen Luxus bot, Horden von Auswanderern, zusammengepfercht in den engen Quartieren der Zwischendecks, aber mit Herzen voller freudiger Erwartung auf das neue, freie Land ihrer Sehnsüchte; sie alle und derjenige, den man an ihre Spitze gestellt hat, mit der Aufgabe über ihr Leben zu wachen, der Kapitän auf seinem verantwortungsvollen Posten auf der Brücke, seine unterschiedlichen Passagiere, und selbst der niedrigste Rang seiner Crew, sie alle fühlten gleichermaßen diesen triumphalen Glanz, den Gefahren der Tiefe zu trotze, den Triumph, geboren aus dem Stolz dieses enormen, wundervollen neuen Schiffes, das sie alle mit sich trug.
Sie war das größte jemals auf der Welt gebaute Schiff. Sie verkörperte den letzten Stand der Technik, das Maximum an Effizienz, die perfekte Verpackung für einen schier unglaublichen Luxus, den sich höchstens die Reichsten auf der Erde leisten konnten. Die Kosten der Titanic waren schrecklich hoch – es hat viele Millionen Dollar gekostet –, es hat viele Monate gedauert, sie zu bauen. Zudem (und das war das Beste an ihr) war sie praktisch unsinkbar, wie ihr Eigner sagte: Durchlöchere ihren Rumpf an irgend einer Stelle, und dahinter ist dann immer ein wasserdichter Schott, eine sichere Maßnahme, die Fluten zu bändigen und den grimmigen Ozean von seinem Werk abzuhalten.
Grimmig! Denn trotz all des Triumphes der Perfektion war die Titanic dennoch das neueste Opfer an die See. Jeder Gegenstand auf ihr war nichts weiter als ein Opfer an die Macht und Erhabenheit der Tiefe. Das Schiff ist nicht der Stolz der Meere: Stählerne Hülle und Masten, drehende Wellen und pulsierende Maschinen–Herzen – was haben sie der wilden und wässrigen Macht entgegenzusetzen? Sie sind ein Affront und nicht eine Huldigung dem fremden, kalten und unbarmherzigen Element, das immer wieder versuchen wird, sie zu unterwerfen.
Aber niemand auf der Titanic ahnte die Gefahr, als ihr Ruder gen Westen steuerte und die Propeller diesen Rhythmus anstimmten, der nicht eher aufhören sollte, als dass der Atlantik überquert war. Bei all den Staatsmännern, Journalisten und berühmten Finanziers, die unter den Passagieren waren (viele von ihnen hatten ihre Geschäftskontakte nutzen müssen, um sich noch eine Passage auf dem großartigen Boot zu sichern), bei all der hochkarätigen Gesellschaft, kann man bezweifeln, dass auch ein einziger von ihnen – und sei es nur im Geringsten – eine Vorahnung der Gefahr hatte. Auch andere Schiffe waren sicher und sicher war vor allem dieses Monster. Denn, sollte es zum Schlimmsten kommen – sie war ja buchstäblich zu groß, um überhaupt sinken zu können! Dies war die instinktive Gewissheit der Passagiere und der Crew. Und dies war auch die unangezweifelte, weltweite Meinung aller, die ihre Abfahrt begleiteten, an jenem tragischen Tag, an dem ihre erste und zugleich letzte Reise beginnen sollte.
Zweifellos bezeugte aber auch ihr Name diese Gewissheit: Titanic wurde sie genannt – womit sie zu den berühmten, fabelhaften Giganten alter Zeiten gehörte – den Titanen –, die einen wagemutigen Krieg gegen die Kräfte der Schöpfung führten.
So wurde er gebaut, dieser Gigant der Schiffe, um der elementaren Kraft des Meeres zu strotzen. Die allerneuste Waffe im immerwährenden Kampf des Menschen gegen die Natur, das Produkt Tausender Gehirne, der Träger Myriaden von Hoffnungen. Und in diesem Sinne wirkte sie sogar überheblich in ihrem Überfluss an Kraft, so wie die Elemente, die sie bezwang – den heulenden Wind über und die reißende Flut unter ihr. Aber dies galt nur, wenn sie am Tage noch nahe dem Land war, viele andere Dinge um sie herum, wenn das größte Schiff neben ihr sie nur noch größer erscheinen ließ. Wenn wir sie uns ganz alleine vorstellen, umhüllt von der Einsamkeit der Nacht, nur ein glitzernder Punkt – nicht mehr – auf dem weiten Wasser und über der endlosen Tiefe, während ihre Gäste noch tanzen oder der Rest schon von Sicherheit eingelullt tief schlummert, wenn wir sie uns in ihrem tatsächlichen Größenverhältnis vorstellen, dann erscheint sie nicht mehr arrogant und übermächtig; sie ist nur ein Umriss, ein Schatten, der wertvolle Seelen als Fracht mit sich führt, eine dünne Spur auf der Oberfläche hinterlässt, ganz den stillen aber zerstörerischen Mächten ausgeliefert, gegen die er so zerbrechlich wirkt wie eine Eierschale.
Derweil hat sich etwas in Bewegung gesetzt, eine seit Jahrhunderten angestaute Macht, weit größer als alles vom Menschen erschaffene. In unendlicher Geduld immer weiter ausgedehnt, auf dem grönländischen Kontinent: Unmengen von Eis und Schnee haben sich aufgetürmt, miteinander verbacken, ausgebreitet, sich nur wenige Zentimeter pro Jahr bewegend. Ein der Zeit trotzender, unbarmherziger Fluss aus Eis, der letztendlich das offene Wasser der Arktis erreicht und in kilometergroße Stücke zerbricht.
Ist alles, was passiert, vorherbestimmt? Und hat eben diese Macht, die jede Sekunde der Reise unseres Planeten überwacht, den Berg aus seinem Schlaf aus Schnee und Eis gerissen, ihn exakt im richtigen Moment freigelassen, um ihn an genau der Stelle im Meer treiben zu lassen, wo der winziger Punk – die schlanke Titanic – auf den Wellen tanzt?
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