Das Problem war die Zeit — Sam wollte zwar Groovy dabei helfen, ein Netzwerk von Goof-City- Unterkünften aufzubauen, aber er hatte ganz einfach nicht die Zeit dazu. Er zerriss sich ohnehin in zwanzig verschiedene Richtungen: Bürgerrecht, Dichtung, Studium klassischer Sprachen, Zusammenkünfte mit den Quäkern und dem Komitee für gewaltfreien Widerstand, Protestversammlungen gegen den Krieg, zu stundenweisen Nebenjobs eilen, Zeitschriften veröffentlichen, Filme machen, knutschen, sich streiten, sich wieder vertragen, auf LSD-Trips gehen, in Bars herumhängen, sich erholen, trampen, Galerien besuchen, die besten Köpfe seiner Generation ausfindig machen.
»Wir leben nicht lange genug, um Goof City entsprechend zu planen. Und wir können nicht überall leben«, sagte Sam Thomas. »Wir brauchen parallele Existenzen!« Sam kam zu dem Schluss, dass er mindestens sieben Leben brauchte: eines fürs Herumhängen, eines für die Kunst, eines für nützliche Arbeit, eines um Saxofon zu üben, eines für Meditation, eines für die Liebe und ein eigenes Leben, um Goof City aufzubauen, um es in Schuss und in Ehren zu halten. Er war so zerteilt, dass er nicht wusste, welchem Scheinwerfer er seinen armen Sonnenblumenschädel entgegenstrecken sollte.
»Eines Tages werden diese ungeplanten Tage des Herumhängens uns wie die Bruchstücke eines verlorenen Paradieses erscheinen«, sagte er. »Ich sehe am Horizont eine abscheuliche Kultur aus lauter Schreibstubenhengsten wie Bartleby, ihre Gesichter in Orwellschen Rattenkäfigen, und keinerlei Freizeit. Es ist deshalb ungeheuer wichtig, Goof City gleichzeitig auch zu leben, während wir Goof City auf die Beine stellen.« Auf einer der Matratzen saßen Indian Annie und Suncatch bereits ineinander verschlungen und bemalten einander die Zehennägel mit verrückten runden Mustern, während sie Betelnüsse aßen. Annie war vom East Village Other zur Slum-Göttin der Woche gekürt worden und schmückte sich jetzt für den Fototermin.
Johnny Ray Slage kam, um Freedoms Käfig zu putzen und Wasser nachzufüllen. Johnny weinte und versuchte dies vor Sam zu verbergen. Jemand hatte ihm bei einem Treffen der verschiedenen Gruppen die Gitarre gestohlen, die er im Flur gelassen hatte, weil der Raum dermaßen überfüllt war. »Ich werde sie wieder auftreiben«, meinte Groovy und schluckte eine Tablette mit Meth , die ihn frech genug machen sollte, um sich auf den Straßen auf die Suche nach der Gibson zu machen. Als er schnellen Schrittes in Richtung Park abdampfte, waren die eindringlichen Melodien seiner Harmonika zu hören.
Nachdem die Matratzenwiese fertig war, ging Sam Thomas wieder nach draußen, um etwas zu erleben. Die Sonne auf der Avenue A hatte, wenn auch nicht gerade das von den Malern so geschätzte mediterrane Leuchten, dennoch eine ungewöhnliche Intensität an einem späten Frühlingsnachmittag, der so warm war wie ein Sommertag.
Er beschloss, sich auf die Stufen der alten Total Assault Cantina zu setzen, um dem fünfzehnköpfigen Celestial Freakbeam Orchestra zuzuhören, das auf dem Dach über ihm probte. Auf den Gehsteigen drängten sich alle möglichen Lebewesen. Hinter dem oberen Rand des Schilds der Total Assault Cantina fütterte ein Rotkehlchen seine Jungen. Es hockte da und umklammerte mit den Beinen das Holz genau über dem Wort »Total«, ein Anblick, den Sam in seinem Notizbuch festhielt, und dann sang es mit einem hellen Zwitschern, das besser war als jedes Lied im Radio.
Das erste, was Sam auffiel, war die Tatsache, dass jeder auf der Straße glücklich wirkte, ziemlich ungewöhnlich für ein finsteres Viertel. Es war ein Tag, an dem viele, die in Armut dahinvegetierten, ihre Unterstützung erhielten, und deshalb waren sogar diejenigen, die in der Klemme steckten, überschwänglich. Aber es war mehr als das — selbst Revolutionäre, die mindestens die letzten sechzehn Jahre nicht gelächelt hatten, vergaßen eine Stunde lang ihren Unwillen!!
John Barrett kam vorbei, so glücklich, wie es ein sich selbst verzehrender Barde nur sein kann. Er war gerade dabei, ein Stück fertigzukriegen, das im North Beach Theatre in San Francisco aufgeführt werden sollte. Er lächelte also.
Indian Annie ging zu ihrem Fototermin als Slum-Göttin, der auf dem Dach, wo das Celestial Freakbeam Orchestra probte, stattfand. Als sie danach herunter kam, strahlte sie wie die junge erste Liebe. Das wirklich einzig Negative, was Sam an diesem ganzen Nachmittag hörte, war die neidische Mary Meth, die Annie zusah, wie sie eilig in den Park lief, wo ihr Freund Suncatch wartete, und fragte: »Was ist hier wohl Slum, und was die Göttin?«
Sechzehn Dichter schlenderten vorbei, und nicht einer von ihnen schien sich um die Karriere Sorgen zu machen, und mindestens drei Stunden lang hatte keiner das Werk eines anderen Dichters runtergemacht! Gut die Hälfte von ihnen blieb stehen und bat Sam, sich Gedichte anzusehen, die sie gerade getippt hatten.
Seine Freundin Linda Quintano setzte sich kurz zu ihm, voll Begeisterung und wildem Elan. Sie hatte einen Subventionsantrag für die Bürokraten von Johnsons Great Society zugunsten der Tagesbetreuungsstätte auf der Avenue B hingekriegt. Sie war voller Zuversicht, dass sie damit auch etwas erreichen würde.
Es wurden spontane Geschenke verteilt, so an jenem Nachmittag, als — fünfundzwanzig Jahre vor dem Eisenhans und den trommelnden Männergruppen — eine Gruppe von Männern als »Überwinde den Geiz«-Unterausschuss der Vereinigung psychedelischer Händler vom Tompkins Square, die Straße entlangmarschierte und Dollarscheine verteilte als Versuch, die Auswirkungen exzessiver Geldgier zu lindern, welche die psychedelische Psyche zerstörte.
Baldy Dom, der Kredithai, gerade aus dem Gefängnis entlassen, bot vor einem leerstehenden Geschäft alle Arten von zweifelhaften Wucher- und Grundstücksgeschäften an, nur ein Stück entfernt von der Stelle, wo Sam Thomas auf den Stufen der Total Assault Cantina saß. Heute ließ Baldy Dom den Dingen einfach ihren Lauf, rückte den ganzen Nachmittag lang niemandem auf die Pelle und lehnte sich in einem Thonet- Sessel gegen die Ziegelmauer des Gebäudes, sodass die Frühlingssonne sein blasses Gefängnisgesicht anstrahlen konnte.
Eltern kamen vorbei, die ihre Söhne und Töchter in ihren Pennbuden besuchen gingen, und Sam konnte an ihrem selbstsicheren, entspannten Gang erkennen, dass sie gewillt waren, über unerlaubt langes Haar ebenso hinwegzusehen wie über Miniröcke, die nicht breiter waren als ein Gürtel, über Wasserpfeifen, dreckiges Gebäck, vernachlässigte Berufslaufbahnen, fehlende Möbel, revolutionäre Poster, seltsame Schlafsäcke und Hinweise auf Rauschgift.
In der Elften Straße gingen Polizisten zu einer Tür hoch, um eine dieser Pennbuden auszuheben. Sie hörten Gelächter und Jazz von gegenüber und beschlossen, es bleiben zu lassen.
Leute schauten hoch und winkten dem Celestial Freakbeam Orchestra zu, dessen Mitglieder gerade wie aufgereiht am Rand des Daches standen und auf die Avenue hinunterschauten, während aus den Trompeten und Zugposaunen eine volle und fröhliche Melodie kam, als würden Wimpel gegen ein Partyzelt knattern. Irgendwie fing, während die Bläser ihre heisere Botschaft verkündeten, etwas an, das eines der legendärsten Ereignisse des Jahres 1967 werden sollte: das Spontaneous Ballet of Avenue A.
Eigentlich gab der Postbote den Anstoß für das Spontaneous Ballet of Avenue A, als er auf dem Gehsteig einen Stepptanz hinlegte, während er die Post für den Schönheitssalon aus seiner Tasche zog. Er überreichte sie dessen Inhaberin tanzend.
Die Inhaberin sprühte zufälligerweise selbst ebenfalls gerade vor Freude, weil ihr Freund ihr am Telefon gerade von seiner Arbeitsstelle aus einen Heiratsantrag gemacht hatte! Und dann war aus dem Labor der Anruf gekommen, dass sie schwanger war!
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