— DEUTSCHE EDITION —
Ed Sanders
Tales Of Beatnik Glory
Band II
East Side Blues
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernhard Schmid
FUEGO
Über dieses Buch
— Band II der vierbändigen Ausgabe —
Allen Ginsberg nannte das dokumentarische Rock ’n’ Drug-Epos Tales of Beatnik Glory über »Die Freaks von Greenwich Village« ganz ohne Neid einen »satirischen Lobgesang auf radikale visionäre Politik, wie man sie im 21. Jahrhundert mit der Einstellung den alten Ägyptern gegenüber betrachten wird«, und einen »Meilenstein historischer Archäologie«. Es ist eine Sammlung von höchst vergnüglichen und schrägen Geschichten um einen Dichter aus dem Hinterland, der zuerst in New York landet und von dort aus die verschiedenen Phasen der alternativen Szene der USA erlebt.
»East Side Blues« führt in die subkulturelle Szene der Lower East Side in das New York der Jahre zwischen 1963 und 1965, wo wir in verschiedenen Stories die Szene-Freaks bei schrägen Kunstaktionen, dem »Großen Marsch nach Washington«, dem Kampf gegen Krieg und Rassismus, sowie bei ausgiebigen Sex- und Drogenexperimenten begleiten. Sanders schlägt in »East Side Blues« einen weiten Bogen von den jüdischen Sozialisten und Aktivisten der Vorkriegsjahre hin zu den Beatniks und Anarchisten der Sechziger, die mutig in die Südstaaten reisten, um dem rassistischen Schrecken des Ku-Klux-Klan die Stirn zu bieten.
»Als die Beatniks den Hippies weichen mussten, war Ed Sanders dabei. Er stand auf der Kreuzung, dirigierte den Verkehr und formte die Dekade.«
William S. Burroughs
Einige schliefen ein, aber die meisten unterhielten sich aufgeregt und begannen alle paar Minuten unter Klatschen und Stampfen zu singen auf dieser langen Morgenfahrt nach Washington. Immer wieder stimmten sie die Hymnen an, die sie bewegten, die Melodien zu ihren philosophischen Passionen: »If I Had A Hammer, »Solidarity Forever«, »Ain’t Gonna Study War No More«, »Dona nobis pacem« . Ein besonders stürmisches Kontingent führte den Bus durch » Cuba Si, Yankee No«, »We Shall Wear The Red And Black« und die » Internationale«, jenes schöne Lied aus den Tagen der Pariser Kommune von 1870.
Sam und seine Freunde saßen ganz hinten und ließen diskret Joints und Alkohol kreisen, und schließlich setzte man sie am Morgen müde und hungrig am Rand des Parks ab, in dem das Washington-Monument steht.
Sam hatte etwas zu erledigen und so winkte er Cynthia, Talbot und Nelson zu und lief los. Unter einer bestimmten Ulme rechts vom Lincoln Memorial wollte man sich später wieder treffen.
Obwohl es über dreißig Grad hatte, trug Sam besonders dicke — schlangensichere — Schaftstiefel, eine orangefarbene, an den Hüften ausgestellte Reitjacke mit Fischgrätmuster, ein kragenloses gewürfeltes Hemd und einen australischen Militärhut, dessen Krempe mit einem NO HOPE WITHOUT DOPE-Button hochgesteckt war (»Keine Hoffnung ohne Dope«) . Der Button gab ihm zu denken, und so nahm er ihn ab und ersetzte ihn durch einen, auf dem AHIMSA zu lesen war.
Die hatte er bis zwei Uhr morgens vervielfältigt, dann war es Zeit für den Bus gewesen. Deshalb war er so müde.
Sein Ziel war die Library of Congress, zu der es mehr als anderthalb Kilometer waren.
»Ich würde mir gern Ezra Pounds Radiosendungen ansehen«, sagte Sam Thomas, seine Lunge eine Thermosflasche voll Scherben, da er die ganze Strecke gelaufen war.
Man brachte ihm einen Karton mit Weiß-auf-Schwarz-Abzügen — offensichtlich von Filmnegativen — der Abschriften von Pounds italienischen Radiosendungen zwischen 1941 und 1943, die der Foreign Broadcast Intelligence Service aufgezeichnet hatte. Sam war zu aufgeregt, um sie sofort durchzugehen. Normalerweise dauerte es wenigstens zehn Minuten, bis sich seine Aufregung so weit legte, dass er hochgeistig arbeiten konnte. An diesem Tag riss er sich so sehr zusammen, dass seine ersten Notizen krakelig, fast unleserlich waren. Seine Nachforschungen galten der »Lb Q« oder »Pound Question« , wie Sam und einige Freunde es nannten. Nicht viele dachten an jenem Tag in Washington groß über die Lb Q nach, aber für Lyriker in der Tradition der Beats, der Black Mountain School, des Objektivismus oder Deep Image war sie ein ernstes Problem. Würden Blicke Papier abnutzen, die Seiten von Personae — einer Sammlung von Pounds frühen Gedichten — wären längst leer gewesen. Pounds unerbittliche Wissenschaftlichkeit, die Mischung aus knallharter und zärtlicher Lyrik, seine Liebe zum Griechischen und Lateinischen, das alles hatte Sam geholfen, Dichter zu werden.
Nach dem Krieg, Sam war in der ersten Klasse, hatte man Lb des Landesverrats angeklagt, für irre erklärt und ins Washingtoner St. Elizabeth’s Hospital abgeschoben. Es war unter Schriftstellern zu einer großen Debatte gekommen, als Pound, während er in der Anstalt war, für die Pisaner Gesänge den Bollingen-Preis verliehen bekam. Einige nannten ihn seiner Sendungen während des Krieges wegen einen Verräter; andere meinten, er sei ein großer Lyriker, und sein Werk hebe ihn über seine Sendungen hinaus; wieder andere nannten ihn eine alberne Schimäre aus alten Zeiten, die man am besten vergesse. 1963, zur Zeit des großen Marsches auf Washington, war Lb längst aus der Klapse entlassen und lebte wieder in Italien.
Sam wollte selbst sehen und entdeckte es auch sofort: Es wimmelte nur so von abfälligen Bezeichnungen über Juden wie »Itzig« und »Itzigenrat« — letzteres poundscher Code für Roosevelts Kabinett.
»Großer Gott, der Mistkerl war ja wirklich ein Antisem!«, entfuhr es Sam — etwas zu laut, sodass der Typ von der Ausleihe die Brauen hochzog.
Eine halbe Stunde genügte. Sam stand auf, eilte mit den Abschriften zurück zur Ausleihe, dankte dem Bibliothekar, schulterte seine Kamera und die Umhängetasche voller Dope, Fucking and Social Change: A Journal of the New America und verließ den marmornen Datentempel im Sprint; vorbei an Kapitol, Nationalgalerie, Smithsonian, Weißem Haus und Washington-Monument hielt er auf den Reflecting Pool vor dem Lincoln-Denkmal zu.
Aus irgendeinem Grund hatte er einen Meskalintrip im Stiefel verbunkert, und als der schmolz, sickerte das Dope durch die schweißnasse Socke in eine geplatzte Wasserblase, sodass er, als er die ungeheure Menschenmenge erreichte, die sich um Lincoln versammelt hatte, zarte Farbnuancen wahrzunehmen begann.
Sam hatte noch nie zweihunderttausend Leute gesehen. Als er die Bell & Howell auspackte und zu filmen begann, war er sich eines tiefen Grollens bewusst, eines Vibrierens, das von der Menge ausging. Es war Sams erste Erfahrung mit dem Summen einer Massendemo und dazu gehörte nicht nur das tosende Grollen der Menge, sondern auch die Hunderte von Leuten, die am Rand lauthals über ihr Engagement für was auch immer sprachen und dabei eine Vielzahl von Flugblättern, Magazinen, Wimpeln, Buttons, Pamphleten und Flugschriften für linke, linksliberale, Friedens- und Bürgerrechtsgruppen verteilten. Sam war in seinem Element. Es war, als lege sich ein Amphetamindunst über seine Sinne. Er ahnte es nicht, aber es lagen fünfzehn Jahre dieses Summens vor ihm.
Nervös vor Angst, sie nicht wiederzufinden, durchkreuzte Sam im Zickzack die mit Transparenten bewehrten Kontingente auf der Suche nach den Freunden. Joan Baez war auf der Bühne und stimmte gerade »We Shall Overcome« an, das im Sommer 1963 — eben als Nationalhymne akzeptiert — die Leute zu bewegen vermochte wie kein anderes Lied.
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