Die Schwiegermama sah sich von Marie und dem D.B. getrennt und fand sich schließlich neben Harry, der sie beim Arm nahm und ihr in die Hocke und in den Tunnel nach Nirgendwo half. »Der einzige Ort, wo wir sicher sind«, sagte er ihr.
Schreie waren zu hören und Harrys Taschenlampe fuhr wie wild hin und her. Die Schwiegermutter warf einen Blick auf das Schild über dem Eingang, als sie in den Tunnel zu krabbeln begann: EINTRITT $2, NACKTE UMSONST.
Was Harry und die Schwiegermama da betraten, war der legendäre »Tunnel der Neunten Straße«. Harry hatte ihn wiederentdeckt. Er hatte von ihm gehört, aber kein Mensch wusste, wo er sich befand; erst ein hundertjähriger Hausmeister aus der Avenue C hatte die Info für ihn. Er führte unter der Neunten Straße zu dem entsprechenden Hof auf der anderen Seite, und angeblich hatte er der Underground Railway zur Rettung von aus der Sklaverei entflohenen Schwarzen gedient.
Inzwischen traf massenhaft Polizei ein. Es wurde unheimlich auf der Straße: die blinkenden Lichter, Sirenen, das rasche Öffnen und Zuschlagen von Türen. Ein Notstandsgebiet. Wie es schien, waren die sieben Tonnen Götterspeise rasch ausgelaufen, und zwar gefährlicherweise in den Tunnel nach Nirgendwo. Darüber hinaus war offensichtlich auch noch ein Stück der Tunneldecke eingebrochen, und gleich am Eingang hatten sich im Hinterhof die Zementplatten gesenkt.
Die Feuerwehrleute versuchten, den Weg freizubekommen. Nur Sweat Brow Bill wusste, dass der Tunnel unter die Straße führte. Aber auch er wusste nicht, wohin. Er, der D.B. und Marie suchten die Straße ab, Lücke für Lücke, Keller für Keller, Flur für Flur, auf der Suche nach Harry Summers und der Schwiegermama. Wo steckten die bloß? Hatten Götterspeise und Steine die beiden erdrückt?
Dann tauchten aus der Dunkelheit der Straße Harry und die Gesuchte auf, kamen, über die kalten, nassen Schläuche steigend, am Spritzenwagen vorbei. Marie wischte sich eben die Freudentränen aus den Augen, als die Schwiegermutter sagte: »Wir bringen ein paar von Harrys Sachen bei uns unter, ein paar Requisiten.«
»Draußen in Queens?«
»Warum nicht? In der Garage haben wir Platz.«
T ALBOT GEHT NACH BIRMINGHAM
Um vier Uhr morgens klopfte es bei Sam. Talbot Jenkins stand draußen, zitternd, stotternd, eine Träne lief ihm langsam über die Backe und glänzte im Schein der Kerzen, die Sam mangels Stroms nachts ansteckte; als sie die Bartgrenze am Kiefer erreichte, machte sie einen jähen Schwenk und benetzte das Haar auf dem Kinn. Keine Spur von seiner bekannt coolen Art. Leise schimpfte er über etwas namens » Slage« , vielleicht auch » Slaize« , Sam war sich nicht sicher. Kurz bevor er wieder ging, wurden seine Worte deutlich und fest: »Ich bringe einen aus dem Klan um«, sagte er. »Hier ist ein Brief für meine Mutter, falls was schief geht.«
Sam sagte erst gar nichts. Er lebte nach der Maxime, das Verhalten seiner Freunde so selten wie möglich infrage zu stellen, und so kam das hallende Klicken von Talbots Absätzen schon vom unteren Ende der Treppe aus Stein und Metall, als Sam den Kopf schüttelte: Das ist doch Wahnsinn. Dann lief er auf die Straße hinunter. »Wie willst du denn da runterkommen? Brauchst du Geld?« Fieberhaft überlegte er nach einem coolen Weg, seinen Freund zu bremsen. Talbot antwortete nicht. »Vielleicht sollten wir im House of Nothingness bei einer Tasse Tee darüber reden, Mann. Die haben wahrscheinlich noch offen ...«
Talbot wollte sich nicht bremsen lassen. »Das Stück Scheiße jag ich in die Luft«, sagte er. »Genauso, wie sie die Mädchen in ihren Gewändern in die Luft gejagt haben.« Zu früh hatten sie die Ecke Vierzehnte und First Avenue erreicht, wo Talbot in der U-Bahn verschwand. Sam stand schweigend da und überlegte, was er machen sollte. Da war nichts zu machen. Talbot ging nach Birmingham und damit hatte es sich.
Sam ging an einem Kiosk vorbei, der die ganze Nacht offen hatte, und kaufte sämtliche Zeitungen — die Times , die Post , den Mirror und die Daily News — und ging dann rüber zum House of Nothingness , in den geharkten weißen Sand im Innenhof, wo man die Stühle auf die Tische zu stellen begann, während er über das Grauen las.
Die vier Kinder waren aus Ella Demands Sonntagsschule gekommen; das Thema der Stunde: »Liebe, die vergibt«. Sie waren in den Keller gegangen, um in ihre Chorgewänder zu schlüpfen, und saßen in weißem Satin auf dem Sofa, als es geschah.
Unvorstellbar — Kinder in ihren Chorgewändern in Fetzen gesprengt! Für Talbot Jenkins war es umso schrecklicher, als er praktisch in einem Chorgewand aufgewachsen war in Harlem, wo seine Eltern eine Kirche leiteten. Sein Vater war der Geistliche, seine Mutter stand dem Chor vor. Selbst jetzt noch legte Talbot hin und wieder seine Satinsachen an, um zu Ostern oder Weihnachten in der Messe zu singen.
Stunden, nachdem er mit Sam gesprochen hatte, hob Talbot Jenkins seinen Koffer auf eine hölzerne Barrikade vor der Baptistenkirche in der Vierzehnten Straße und starrte dann die zerschmetterten, bombengeschwärzten Reste der Buntglasfenster an. Er kochte vor Zorn. Er kniff die Augen zusammen, bis sie so gut wie geschlossen waren, und dachte an die Graffiti, die Gangs aus der Lower East Side neben ihren Namen an die Wände sprühten: » DTK« für » Down to Kill« — bereit zu töten. Genau das würde Talbot unten in Birmingham sein: DTK — Leben für Leben, Dynamit für Dynamit.
Talbot ging hinein und fuhr dort mit den Fingern die gezackten Buntglasscherben in einem der Fensterrahmen entlang. Er kniete nieder, ohne die Finger von den Zacken zu nehmen, und sprach ein Gebet. Das Zittern, der Kummer, der Zorn vermengten sich mit dem Blut an seinen Händen, als er die Scherben umschloss.
In der Tasche hatte er einen Zettel mit einem Namen darauf: Ethrom Slage, Chef einer Ortsgruppe des Klans in der Nähe von Birmingham. Slage hatte damals, 1961, an dem Tag, als man auf einem Trailways-Bahnhof in Birmingham Talbots Bus mit Freedom Riders überfiel, ein Bleirohr geschwungen. Slage hatte Talbots angehender Karriere als Footballprofi mit einem brutalen Schlag aufs Knie ein Ende bereitet.
Talbot hatte Slages Namen von den Typen aus dem Justizministerium, die Kennedy im Frühjahr des Vorjahrs geschickt hatte, um die Demonstrationen zu verfolgen. Sie hatten sich lange geweigert, ihm Auskunft über die Identität des Mannes auf dem Foto zu geben, das Talbot ihnen zeigte, aber er war so hartnäckig, dass schließlich einer von ihnen Slages Namen auf den Zettel schrieb, der sich jetzt in Talbots Tasche befand.
Talbot hatte eine Sammlung von Fotos von Slage, wie er auf Demos über Leute herfiel. Slage schwang sein Bleirohr quer durch den Süden, obwohl Kennedys Justizministerium ihm mit einer Klage gedroht hatte, sodass er es ’63 nicht mehr ganz so offensichtlich trieb wie ’61. Talbots Ansicht nach hatte Slage umgesattelt und sich von Bleirohren auf Dynamitstangen verlegt. Aber damit war jetzt Schluss. Talbot war DTK.
Talbot besorgte sich eine Pistole, deren Herkunft nicht zu verfolgen war, und einen Wagen von jemandem, der nicht das Geringste mit den Bürgerrechtsgruppen der Stadt zu tun hatte. Falls man ihn erwischte, so wollte er nicht, dass jemand aus der Bewegung Probleme bekam.
Talbot brach auf einer Baustelle ein, wo er das Schloss wegschoss und einen Karton Dynamit mit einigen Sprengkapseln stahl. Er wusste, was er tat; er hatte mit seinem Onkel in der Bronx Abrissgebäude gesprengt. In dem Koffer, den er aus New York mitnahm, befanden sich Drahtrollen und ein batteriebetriebener Detonator.
Am späten Vormittag desselben Tages fuhr er an Ethrom Slages Farm einige Meilen außerhalb von Birmingham vorbei. Er hatte sich einen Wagen besorgt, der alt genug war, um damit eine Panne vortäuschen zu können, und hatte ein Zündkabel abgezogen, sodass er auf nur fünf Zylindern dahinhustete. Etwa hundert Meter weiter blieb er stehen, öffnete die Haube und prägte sich, während er vor sich hinbastelte, den Grundriss des Anwesens ein.
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