Die Ernüchterung, die hier anklingt, wurde bei Reinhold Grundemann, einem engen Mitarbeiter Warnecks, in seinem Rechenschaftsbericht über das abgelaufene Missionsjahrhundert von 1900 deutlich: «Also das Jahrhundert hat etwas anderes geliefert, als die meisten Missionsfreunde erwarteten. Aber waren diese Erwartungen berechtigt?»111 Er kam zu dem Schluss: «Es waren übertriebene, unbillige Erwartungen, die man in der Heimat hegte.»112
Für die Autoren stand also außer Frage, dass das 19. Jahrhundert eine von Gott gewollte und bereitete Zeit der Mission war. Jedoch in der Bewertung, was denn die Mission als Mission ausmache, kann man eine Verlagerung bzw. eine zunehmende kritische Reflexion feststellen.113 Wurde noch bis in die 1880er die Bekehrung ganzer Völkern erwartet,114 so lässt sich im Rückblick auf das 19. Jahrhundert – und nachdem dies so offensichtlich nicht eingetreten war – eine gewisse Problematisierung eines Missionsverständnisses feststellen, das sich allein an zahlenmäßigen Erfolgen festmachte.
Diese um 1900 festzustellende ‹Ernüchterung› angesichts des schwindenden Optimismus und zunehmenden Krisenbewußtseins lässt sich auch in anderen theologischen Richtungen feststellen z.B. in der Liberalen Theologie bei Ernst Troeltsch und der Ritschl-Schule, aber auch in der Dialektischen Theologie. Karl Barth selbst führte wesentliche Impulse für sich und seine theologische Generation auf Christoph Blumhardt d.J. zurück.115 Graf stellt für den Kulturprotestantismus um 1900 eine zunehmende Konfliktorientierung und Krisenmetaphorik fest, die sich in einer gesteigerten Sensibilität für soziale und politische Antagonismen äußerte: Der Optimismus des durch den Protestantenverein geprägten Altliberalismus des 19. Jahrhunderts wurde in der Generation der Ritschl-Schüler ab 1890 durch eine Fin de Siècle-Stimmung |51| überlagert. Das alte harmonistische Gesellschaftsbild, das der Protestantenverein Mitte des 19. Jahrhunderts vertrat, stand dabei in einer idealistischen Tradition, während der jüngere Kulturprotestantismus durch die Vermittlung Wilhelm Herrmanns, Albrecht Ritschls und deren Schüler stark kantianisch geprägt wurde.116 Dieser Wechsel von einem harmonistisch-integrativen hin zu einem eher statischen, antagonistischen Welt- und Menschenbild ließ sich ab 1880 auch im Missionsdiskurs feststellen.
3.2.3. Mission im Verhältnis zu Kirche, Konfession und Staat
Seit Beginn der protestantischen Missionsgeschichte wurde die Bedeutung von Kirchen und Konfessionen für die Mission diskutiert.117 Die Unterscheidung von überkonfessionellen und konfessionellen Missionsgesellschaften bei Johannes Aagaard spiegelt die Entwicklung wider, die sich im 19. Jahrhundert innerhalb der protestantischen Konfessionen, aber auch im Verhältnis von Protestantismus zum Katholizismus vollzog.118 Sie bietet ein Raster für die Einteilung der Missionsgesellschaften des 19. Jahrhunderts in verschiedene Missionstypen. So lässt sich für das erste Drittel des 19. Jahrhunderts eine starke interkonfessionelle Strömung feststellen, die sich in den landeskirchlichen Unionsbildungen in Nassau und Preußen (1817), in der Pfalz und in Hanau (1818), in Baden (1821) und schließlich in Hessen (1822) niederschlug.119 |52| Ab den 1830er Jahren setzte eine «Rekonfessionalisierung»120 ein, die sich intern und extern vollzog: Unter der internen Konfessionalisierung versteht Blaschke «einen zunächst harmlosen Prozeß der binnenkirchlichen Konstruktion kollektiver Identität und mithin der intrakonfessionellen Konsolidierung. Diese interne Konfessionalisierung führte jedoch zur Abgrenzung von konkurrierenden Deutungsangeboten.»121 Die Frage der Konfession wurde dadurch in Bereiche hineingetragen, die eigentlich nicht zum System Religion gehörten, zum Beispiel in die Politik, aber auch in das Erziehungswesen und in die Publizistik. Dieser Vorgang lässt sich als externe Konfessionalisierung beschreiben.
Die interkonfessionelle Euphorie zu Beginn des Jahrhunderts hatte ihren Grund zum einen in der Aufklärung und dem Rationalismus, aber auch in der starken Rückbindung an den biblischen Text in Pietismus und Erweckungsbewegung. So setzte sich das Phänomen bei den überkonfessionellen Missionsgesellschaften des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts fort. Die Konfessionalisierung ab den 1830er Jahren wiederum zeigte sich in den Gründungen der Missionsgesellschaften dieser Zeit bzw. in der lutherischen Neuorientierung der bislang überkonfessionellen Berliner Missionsgesellschaft ab 1865. Manche Missionsgesellschaften wie z.B. die Hermannsburger Mission verdankten ihre Entstehung direkt der Auseinandersetzung um den rechten Umgang mit |53| der konfessionellen Frage, die auch immer weitere Fragen wie z.B. die nach dem Bekenntnis, der Ordination, der wahren (unsichtbaren) Kirche, dem Verhältnis von Staat und Kirche nach sich zog. Einige Missionsgesellschaften setzten sich konkret mit dieser Problemstellung auseinander. Doch auch Missionsgesellschaften wie die Basler Mission, die versuchten, sich bei diesem Thema neutral zu verhalten, waren immer wieder gezwungen, sich damit zu befassen. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts lässt sich eine Art ‹Reform der Reform› beobachten: Als Reaktion auf die konfessionell geprägten, stark an kirchlichen Institutionen und Ordnungen ausgerichteten Missionsgesellschaften entstanden die Glaubensmissionen, die sich noch stärker als die überkonfessionellen Gesellschaften des ersten Drittels gegen Institutionalisierung und Bekenntnis jeglicher Art wendeten.
Neben der Einteilung der Missionsgesellschaften hinsichtlich ihrer Haltung zu Konfession und Kirche, besteht eine weitere Möglichkeit, die zwei Missions-‹Lager› zu beschreiben in der Untersuchung ihres Verhältnisses zur Obrigkeit. So stehen für Wellenreuther die Hallesche und die Herrnhuter Missionsarbeit seit den 1730er Jahren paradigmatisch für die zwei Grundtypen protestantischer Mission im 19. Jahrhundert.122 Zum einen stellt er die herrschaftsnahe Mission von Halle, der Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts und der Society for Promoting Christian Knowledge, der herrschaftsfernen Mission Herrnhuts gegenüber: «Während herrschaftsnahe Mission in den Jahrzehnten nach 1760 allmählich verkümmerte und erst im Zusammenhang mit der neuen imperialen Politik europäischer Mächte nach 1870 eine Renaissance erleben sollte, ist die Geschichte der christlichen Mission zwischen 1730 und 1870 wesentlich durch herrschaftsferne Missionsaktivitäten bestimmt, aus denen sich bis ins 20. Jahrhundert hinein die Glaubensmissionen entwickeln sollten.»123
Die herrschaftsferne Richtung der Mission war ökumenisch und überkonfessionell ausgerichtet. Sie orientierte sich an der Handwerker-Mission Herrnhuts, die nicht auf einer wissenschaftliche Ausbildung bestand, sondern die persönliche Frömmigkeit in den Vordergrund stellte. Die herrschaftsnahe Mission, für die Halle steht, war eine Theologen-Mission, welche nur studierte und ordinierte Lutheraner in die Mission schickte, die in ihren Vorstellungen und ihrer Frömmigkeit pietistisch, aber auch akademisch geprägt waren. In der Missionsmethode spielte für die herrschaftsnahe Mission die Abgrenzung und Erhaltung der eigenen Amtswürde und des Amtsverständnisses eine |54| große Rolle, während die herrschaftsferne Mission sich um einen intensiven, dauernden Kontakt mit den Menschen bemühte, die sie bekehren wollte.
So unterschiedlich wie die Missionsmethoden waren die zwei Missionen auch in ihrer theologischen Ausrichtung, vor allem in ihrem Verständnis von Buße und Bekehrung. Bekehrung war für Halle kein spontaner Akt, sondern ein Prozess des Kampfes und der Unterweisung, in dessen Verlauf alles Heidnische überwunden werden musste und an dessen Ende die Taufe stand. Im Unterschied dazu verzichtete Herrnhut auf eine systematische Unterweisung. Ziel war die spontane Bekehrung und Annahme der persönlichen Errettung durch den gekreuzigten Heiland, welche in der Taufe ihren Ausdruck fand.
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