Wie sehr ich mich täuschte, merkte ich in aller Deutlichkeit, als ich drei Wochen später zu meinem Freund Xavier K. nach Los Angeles flog. Er hatte mir vorgeschlagen, gemeinsam das Drehbuch nochmals zu überarbeiten. Selber Autor und Regisseur, waren ihm meine Probleme bewußt. Dankbar nahm ich sein Hilfsangebot an. Ein letzter Rest Hoffnung war ja noch entgegen aller Einsicht in mir vorhanden. Aber mein Zustand hatte sich in keiner Weise gebessert, im Gegenteil, es kam mir vor, als ob ich unaufhaltsam immer tiefer in eine raumlose Dunkelheit stürzen würde. Ins Nichts. Dominique brachte mich zum Flughafen und plötzlich überfiel mich ein Gefühl, als ob sich mein Inneres in zwei Teile spalten würde. Ich hatte mich entschieden zu fliegen und jetzt, kurz vor dem Abflug, sträubten sich meine Nervenfasern, von Kopf bis Fuß, mit aller Gewalt gegen die Reise. Es war, wie wenn eine unter Strom stehende Eisenklammer meinen Magen umschließen würde. Ich wollte nicht gehen, weil ich spürte, daß die Reise zu Xavier im Grunde genommen sinnlos war, aber ich getraute mich nicht, es ihr zu sagen. Ich wußte, daß Dominique mich verstanden hätte, aber ich brachte die Worte nicht über die Lippen. Es ging nicht. In meinem Hirn brodelte ein hochexplosives Gemisch aus Panik, Angst und Verzweiflung, und meine Stimmbänder waren lahmgelegt. Ich hatte nur noch einen Gedanken, der sich in mein Bewußtsein schob und wie eine Drehorgel vor sich hin leierte: Ich will hierbleiben, ich will nicht abreisen, ich will hierbleiben, ich will nicht abreisen… aber ich konnte es nicht aussprechen. Während des Check-in nicht, auf dem Weg zur Paßabfertigung nicht und als ich mich von Dominique verabschiedete auch nicht. Mein Körper bewegte sich vorwärts zum Abfluggate. Mein Geist und meine Seele bewegten sich rückwärts, dorthin, wo ich am liebsten geblieben wäre.
Im Flugzeug nach Los Angeles war ich unfähig, mir den Film anzusehen, geschweige zu lesen, von Schreiben war nicht zu reden und schlafen konnte ich auch nicht. So saß ich zwölf Stunden bewegungslos auf meinem Platz und hatte nur den einen Wunsch, das Flugzeug möge abstürzen. Es stürzte nicht ab, sondern landete sicher auf dem Boden des Flughafens von Los Angeles. Ich dagegen war schon längstens abgestürzt – von Boden unter den Füßen keine Spur.
Es hätten zehn wunderbare Tage bei Xavier, seiner Frau Sabina und ihrem zweijährigen Töchterchen werden können. Sie umsorgten mich und halfen mir, wo sie nur konnten. Wir unterhielten uns über meinen Zustand und versuchten zu arbeiten. Es war aussichtslos. Ich brachte keinen klaren Gedanken zu Papier, und die Ideen, die Xavier in phantasievoller Fülle vortrug und aufschrieb, konnte ich nirgends einordnen. Einige Male stand ich auf der Dachterrasse der wunderschönen Wohnung, blickte zu den unweit entfernten Palmen, die den Weg zum Ozean säumten, beugte mich über die Brüstung und überlegte, ob ich nicht hinunterspringen sollte. Ich suchte nach einer Lücke in der Reihe der geparkten Autos, sah den harten Betonboden und sprang nicht. Es blieb ein immer wiederkehrender Wunsch, aber ich erfüllte ihn mir nicht.
Und dann, eines Morgens, auf dem Weg zum Santa Monica Boulevard, wo ich einige Einkäufe machen wollte, begann in mir zunehmender Widerstand gegen das Antidepressivum hochzusteigen, das mir mein Arzt verschrieben hatte. Seit über einem Monat schluckte ich die Pillen und in meinem Kopf herrschte nach wie vor das totale Chaos. Ich hatte schon immer eine sehr kritische Meinung über den Einsatz von chemischen Mitteln, wann und warum immer sie zur Anwendung gelangten. Natürlich war mir bewußt, daß es in der Medizin Situationen gab, in denen die Chemie die letzte Möglichkeit war, ein Leben zu retten. Aber als erstes, davon war ich überzeugt und bin es immer noch, galt es doch, auf die Selbstheilungskräfte des Körpers zu vertrauen. Und so fragte ich mich: War vielleicht die Chemie daran schuld, daß es zu keiner Besserung kam? Das wäre doch auch denkbar. Bis jetzt hatten die Medikamente jedenfalls keine Wirkung gezeigt. Und wie war das mit der Psyche? Würde da die Selbstheilung auch funktionieren? Ich wollte es wissen und setzte das Antidepressivum noch am gleichen Tag ab. Ich hoffte sehr, die Wärme und die Sonne Kaliforniens allein würden heilend wirken. Irrtum. Beim Abschied von Sabina und Xavier dachte ich, ich würde sie nie wiedersehen. Der Gedanke verursachte mir Übelkeit.
Ich machte einen Zwischenhalt von drei Tagen in New York, denn ich brachte es nicht übers Herz, den Kontinent zu verlassen, ohne Elia zu sehen. Als wir uns unter der Wohnungstüre umarmten, merkte ich, daß auch er nicht in bester Verfassung war. Ich kannte den Grund, er hatte am Telefon davon gesprochen. Die Ende Juli auslaufende Frist seiner Aufenthaltsbewilligung hing wie ein Damoklesschwert über ihm. Würde sein Antrag für das neue Visum, eine Vorstufe zur Greencard, von der Einwanderungsbehörde nicht bewilligt, so müßte er das Land definitiv verlassen. Seit seiner Studienzeit an der NYU hatte er jedes Jahr an der US-Greencard-Lotterie teilgenommen und gefiebert, aber das Glück war ihm nicht hold gewesen. So war er gezwungen, den beschwerlichen und teuren Weg zu einer definitiven Aufenthaltsbewilligung mit einem Anwalt zu gehen. Der Gedanke, alles aufgeben und unfreiwillig wieder in die Schweiz zurückkehren zu müssen, war für ihn unerträglich. In New York hatte er studiert, seinen Arbeits- und Freundeskreis aufgebaut und sich als freier Kameramann im Laufe der Jahre einen guten Namen geschaffen. Daß alles mit einem Federstrich zunichte gemacht werden könnte und er keine Möglichkeit hätte, einen negativen Entscheid der Behörde anzufechten, brachte ihn fast an den Rand der Verzweiflung. Und ich litt mit ihm.
Es wurden die längsten drei Tage meines Lebens und sicher auch im Leben von Elia. Wir hatten kaum etwas zu reden miteinander. Nicht, weil wir uns nichts zu sagen gehabt hätten, nein, jeder von uns war seinen eigenen Ängsten, Verzweiflungen und sich im Kreis drehenden Gedanken derart ausgeliefert, daß wir verstummten. Die Gegenwart war so unerträglich, daß ich mich mit meinen Gedanken in die Vergangenheit flüchtete.
Ich hatte in dieser Stadt auch Erfreuliches erlebt: im März 1976 die erfolgreiche Premiere meines Films Konfrontation in einem Kino in Manhattan und die darauffolgende beachtlich gute Kritik in der New York Times und, vierzehn Jahre später, im März 1990, die ebenso erfolgreiche Vorführung von Leo Sonnyboy am New York Film Festival. Jetzt aber war es nicht mehr die pulsierende, kurzweilige, aufregende Stadt, die mich immer wieder von neuem fasziniert hatte. Das New York, wie ich es aus den Filmen von Sidney Lumet, Martin Scorsese und ganz besonders Woody Allen kannte und liebte. Diesmal war Big Apple nur noch bedrohlich, abweisend und kalt. Als ob wir dagegen ankämpfen wollten, marschierten wir am ersten Tag wortlos Seite an Seite, Stunden um Stunden durch Straßen und Pärke, ungeachtet des launischen Aprilwetters, das uns zeitweise einen bissigen Wind ins Gesicht blies. Wenn schon unsere Gehirne zermartert wurden, die Beine ließen uns nicht im Stich. Wer Downtown Manhattan kennt, der kann sich die Distanz vom Astor Place hinunter zum Battery Park sicher vorstellen. Es kam mir vor, als ob wir um unser Leben laufen würden. Die Menschen in den Straßen interessierten uns nicht, eigentlich interessierte uns überhaupt nichts mehr. Wir wußten, daß wir einander nicht helfen konnten, daß niemand uns helfen konnte. Wir waren uns ganz nah und gleichzeitig weit voneinander entfernt. Wäre ich dazu in der Lage gewesen, ich hätte nur noch geweint.
Am zweiten Tag regnete es. An einen längeren Marsch war nicht zu denken. Wir studierten die Kinoinserate. Welcher Film würde sich wohl für unsere Stimmung am ehesten eignen? Eigentlich keiner. Meiner Depression und seiner Ungewissheit war auch die Neugier zum Opfer gefallen. An der Second Avenue, wenige Minuten von Elias Wohnung entfernt, lief Titanic. Ein Film, der uns in keiner Weise interessierte. Aber jetzt, in dieser Situation, war es für uns die einzige Alternative. Für knapp drei Stunden im dunklen Saal sitzen und sich irgendwelchen filmtechnischen Kapriolen, sentimentalen Gefühlsduseleien und dramaturgischen Unwahrscheinlichkeiten aussetzen – das war im Vergleich zur Nässe und Kälte draußen immer noch die bessere Lösung.
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