Am Samstag war es soweit. Christoph verabschiedete sich am Morgen und fuhr mit dem Mietwagen nach Chicago, von wo er gleichentags zurück in die Schweiz flog. Rechtzeitig, denn im Laufe des Nachmittags wurde das Land von einer riesigen Ladung Vorfrühlingsschnee zugedeckt.
Tags darauf kam Elia, der in der gleichen Woche in Milwaukee einen Werbespot für Miller’s Beer gedreht hatte. Am Abend saßen wir in der Pizzeria des Hotels und ich berichtete ihm ausführlich über die vergangenen Tage. Ich mußte davon reden, das war ich ihm schuldig, denn schließlich hatten wir geplant, daß er bei meinem Film hinter der Kamera stehen würde. Ich erzählte ihm von meiner Verzweiflung, vom sinnlosen Umherirren in New Glarus, von den vergeblichen Bemühungen, mit Christoph Verbesserungen am Buch anzubringen. Er sprach mir Mut zu und war überzeugt, daß es trotz aller momentanen Schwierigkeiten sicher noch Möglichkeiten gäbe, den Film zu retten. Ich wollte ihn nicht enttäuschen und widersprach ihm nicht. Ich hatte auch nicht die Kraft dazu. Ich fühlte mich leer. Im Kopf und im ganzen Körper.
Am andern Tag – der Winter hatte die Gegend weiterhin eisig im Griff – fuhr uns der Hotelbesitzer frühmorgens zum Flughafen von Madison. Es sollte eine Reise voller Tücken werden. Da der Flughafen von Chicago geschlossen war, waren wir gezwungen, mit einer andern Fluggesellschaft als der ursprünglichen über Detroit nach New York zu fliegen. Elia mußte seine ganze Überzeugungskraft bei der Dame am Check-in einsetzen, um zwei Plätze für die nächste Maschine zu bekommen. In Detroit verpassten wir den Anschlußflug, weil wir beide vergessen hatten, daß wir über eine Zeitzone geflogen waren – eine Folge der intensiven Gespräche darüber, was in den letzten Monaten geschehen war: die Trennung von Dominique, meiner Frau, im Herbst 97, die für Außenstehende, auch wenn sie uns noch so gut kannten, völlig überraschend kam und nur schwer nachvollziehbar war. Ich sprach von meiner über Jahre dauernden Unlust und Gleichgültigkeit, die sich in unserer Ehe fast unbemerkt eingeschlichen hatte, von der Unfähigkeit, darüber zu reden, aus falscher Angst, dem Partner zu nahe zu treten, ihn womöglich unbeabsichtigt zu verletzen. Das fatale Festhalten an der trügerischen Hoffnung, es würde sich alles von selber regeln. Unsere Ehe war nicht gescheitert, weil wir den Respekt zueinander verloren hatten, sondern weil wir uns, so paradox es klingen mag, mit zuviel Respekt begegneten. Zuviel Respekt als Deckmantel vor dem eigenen Unvermögen, Konflikte offen und ehrlich auszutragen. Trotz meines lamentablen Zustandes drängte es mich, Elia über den Sachverhalt so gut ich konnte aufzuklären. Ich wollte nicht, daß Dominique in seinen Augen als Alleinschuldige dastand. Das wäre mir zu simpel gewesen. Es war ja nicht nur die unbefriedigende Situation in unserer Ehe, die mich zunehmend belastet und schließlich in diese geistig-seelische Totalblockade, genannt Depression, getrieben hatte. Unbefriedigend und zermürbend im höchsten Maß war auch das über Jahre dauernde Hin und Her um »Swiss Paradise«. Einerseits hatte die zweimalige Rückweisung des Projektes durch den Begutachtungsausschuß der Eidgenössischen Filmkommission die Suche nach zusätzlichen Finanzierungsquellen immer wieder hinausgezögert, anderseits war das Drehbuch aber auch von zwei deutschen Fernsehstationen zurückgewiesen worden, mit der Begründung, für diese bilinguale (Dialekt und Englisch) Schweizer Komödie würde sich kein deutsches Publikum finden. Dieses fragwürdige Argument kannte ich seit Jahrzehnten. Jedes meiner Drehbücher, von Konfrontation über Die Schweizermacher und Teddy Bär bis zu Leo Sonnyboy, war jeweils von deutschen Fernsehanstalten genau aus diesem Grund abgelehnt worden. Waren dann allerdings die Filme produziert, konnten sie nicht schnell genug angekauft werden. Durch die deutschen Absagen war die Finanzierung des »Swiss Paradise«- Projekts in Frage gestellt.
Doch die Geldsuche war nur das eine Problem, das andere war der Produzent selbst. Seine rosarot gefärbten Versprechungen, trotz belastender Hypotheken aus seinen früheren Produktionen die Restfinanzierung in absehbarer Frist auf die Beine zu stellen, blieben, was sie von Anfang an waren: Seifenblasen. Ich mußte mich aber auch selbst an der Nase nehmen, hatte ich doch meine Bedenken über seine Fähigkeiten als Produzent fahrlässig zur Seite gewischt und ihm nie klar gesagt, daß er ohne Zweifel in der Lage sei, die Arbeit eines Produktionsleiters zu bewältigen, als Produzent jedoch zuwenig Know-how besitze, um sich auf dem Kampffeld der nationalen und internationalen Filmszene erfolgreich zu behaupten. Ich hätte mich längst von ihm trennen müssen, denn seine Selbstüberschätzung war mir schon nach ein paar Monaten Zusammenarbeit bewußt geworden. Aber, so wie in der Beziehung zu meiner Frau, überließ ich auch in der Beziehung zu meinem Produzenten das Boot, in dem wir beide saßen, dem Zufall des Wellenspiels und wartete auf irgendeine Entscheidung, die wer immer auch treffen würde, nur nicht ich. Was war es denn, das mich hinderte, das Steuer selbst in die Hand zu nehmen? Vorsicht? Rücksicht? Unentschlossenheit? Unsicherheit? Ich denke, es war nichts anderes als Angst. Angst um die Beziehung, Angst um den Film, Angst um die Zukunft, Angst um mich selber. Falsche Angst. Gefährliche Angst.
Auch wenn es alles andere als erfreuliche Gedanken waren, mit denen ich Elia konfrontierte, so zeigte er viel Verständnis und versuchte mir, trotz aller Schwierigkeiten, ein Gefühl von Hoffnung zu geben. Er konnte nicht wissen, daß meine Verzweiflung jede Form von Hoffnung im Keim erstickte.
Als wir schließlich abends um sechs wohlbehalten auf dem regnerischen New Yorker La Guardia Airport landeten, sandte ich ein Dankgebet zum Himmel, daß ich diese Reise nicht alleine hatte machen müssen. Meine innere Auflösung war so weit fortgeschritten, daß ich mich wie ein verängstigter, zittriger Greis fühlte. Die Angst war mittlerweile meine ständige Begleiterin. Die vier Tage in New York ertrug ich trotz meines angeschlagenen Zustandes wider Erwarten gut. Elia hatte eine interessante Kameraarbeit hinter sich und wir diskutierten stundenlang über gestalterische Fragen. Ich freute mich mit ihm und mein Vaterstolz verdrängte für kurze Zeit meine Verzweiflung.
Er hatte in die Tat umgesetzt, wovon ich vor fast vierzig Jahren kurz geträumt hatte, nämlich mit einer farbigen Frau in Amerika zusammenzuleben und Filme zu realisieren. Ich hätte es in der Hand gehabt. Die Frau stammte zwar nicht aus Trinidad, wie Elias Freundin, sondern aus Jamaica und sie hatte tatsächlich auf mich gewartet, aber … doch davon später.
Elia versuchte zu retten, was zu retten war, und machte unbeirrt Verbesserungsvorschläge zum Drehbuch. Ich versprach, darüber nachzudenken, mehr war nicht möglich. Und im Grunde nicht einmal das. Wir besuchten zwei Besetzungsbüros, um Informationen über amerikanische Schauspieler zu bekommen und sprachen mit einer befreundeten Produktionsleiterin, die das Drehbuch gelesen hatte. Die Geschichte gefiel ihr gut. Kritisch äußerte sie sich zu jenem Teil der Handlung, in dem die Indianer ins Spiel kamen, die im Bundesstaat Wisconsin als einzige berechtigt sind, ein Spielkasino zu betreiben. Man kann diese außergewöhnliche Vereinbarung als eine Art Wiedergutmachungsversuch gegenüber Amerikas Ureinwohnern betrachten, eine Folge des schlechten Gewissens der Regierung, aufgrund der mehr als hundertjährigen Verfolgung und Diskriminierung der indianischen Bevölkerung. Die Produktionsleiterin machte einige konstruktive Vorschläge, wie die bestehenden Mängel behoben werden könnten. Und plötzlich hatte ich das Gefühl, ich würde es doch noch schaffen, den Film im Sommer zu drehen. Der Abschied fiel mir darum nicht so schwer, denn ich dachte, wir würden uns bald wiedersehen. Spätestens dann, wenn ich für die Vorarbeiten zum Dreh wiederkommen würde. Daß die vier Tage in New York lediglich ein letztes Aufflackern meiner Willenskraft bewirkt und die Höllenfahrt in den endlosen, schwarzen Tunnel nur um kurze Zeit hinausgezögert hatten, ahnte ich nicht.
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