Wir saßen mit ein paar Freunden in Bens Wohnung, als einer von ihnen Ben einen Brief von einer Cousine in Dallas in die Hand drückte und um ein Reading bat. „Erzähl‘ mir bloß nicht mehr “, warnte Ben. „Je weniger ich weiß, umso genauere Angaben kann ich machen.“ Nach wenigen Sekunden griff er sich an Kopf. „Keine Ahnung, was da los ist, aber ich bekomme plötzlich derart massive Kopfschmerzen, das könnt Ihr euch gar nicht vorstellen.“ Er legte den Brief aus der Hand und die Kopfschmerzen verschwanden. Dann nahm er ihn wieder auf und prompt schmerzte sein Kopf erneut. Er probierte dies mehrere Male aus.
Ich schlug ihm vor, den Brief lieber nicht anzufassen, aber Ben hatte sich in den Kopf gesetzt, dass er die Schmerzen auflösen wolle. Er ging also in sein Schlafzimmer und legte sich hin, den Brief weiterhin in der Hand haltend. Etwa fünfzehn Minuten später kehrte er zu uns zurück – völlig erschöpft, aber mit triumphierendem Blick verkündete er stolz, dass er die Schmerzen habe verschwinden lassen.
Ben war mit diesem Ergebnis schon höchst zufrieden, und erst nachdem der Freund seine Cousine in Dallas angerufen und ihr von dem Reading berichtet hatte, sollte uns die Idee kommen, dass wir auf etwas völlig Neues gestoßen sein könnten: Denn offensichtlich litt die Cousine zu dem Zeitpunkt, als Ben ihren Brief in der Hand hielt, an einem Migräneanfall. Als die Schmerzen in Bens Kopf sich auflösten, geschah das Gleiche auch bei ihr. Dabei hatte Ben gar nicht die Absicht gehabt, sie zu heilen, sondern wollte lediglich die entsetzlichen Schmerzen in seinem eigenen Kopf loswerden.
Schon bei vorherigen Readings hatte Ben manchmal Informationen über körperliche Symptome bekommen, aber diesmal hatte er sie zum ersten Mal am eigenen Leib verspürt. Einmal, als er den Büchereiausweis eines besonders skeptischen Freundes von mir in der Hand hielt, legte Ben seine rechte Hand an seinen eigenen unteren Rücken: „Dein Freund Douglas hat sich etwa hier den Rücken verrenkt, und zwar erst vor Kurzem. Ich glaube, es ist passiert, als er etwas gehoben hat. Es ist nicht weiter schlimm, könnte aber chronisch werden, wenn er sich nicht darum kümmert. Außerdem sind seine Schultern verspannt, aber das ist nur nervöse Anspannung.“ Dann stellte Ben eine seiner seltenen Fragen: „Worüber macht sich dein Freund Sorgen?“
„Er heiratet bald.“
„Sag ihm, er soll es lieber sein lassen, zumindest wenn er die Anspannung loswerden will“, riet Ben. Dann wurde sein Blick wieder leer. „Und dann ist da eine Geschwulst hinter seinem linken Ohr. Das ist nichts Ernstes, auch wenn er sich Sorgen deswegen macht.“ Und nach einer Pause fügte er noch hinzu: „Ich glaube, es ist eine Talgzyste.“ Ich fragte ihn, was das sei, und er antwortete: „Keine Ahnung. Das kam mir einfach so in den Sinn.“
Da Ben sich nie danach erkundigte, ob er richtig gelegen hatte, erzählte ich ihm nicht, dass mein Freund sich einen Monat vorher beim Hochheben einer Kiste den Rücken verrenkt hatte. Als ich Douglas wenig später den Büchereiausweis zurückgab, bestätigte er die Anspannung in den Schultern. Die Geschwulst hinter seinem linken Ohr sah ich mit eigenen Augen und ein Arzt diagnostizierte wenig später eine harmlose Talgzyste …
Douglas‘ Reaktion auf Bens Diagnose war auch wieder „typisch“: Zwar erstaunte ihn die Genauigkeit von Bens Aussagen, aber er zeigte keinerlei Interesse an seinen Fähigkeiten – der „Douglas-Effekt“.
Der Brief der Cousine aus Dallas markierte den Beginn von Bens Arbeit als „Diagnostiker“. Und wie der Zufall es wollte, war ich die erste Person, die er wissentlich heilte.
Wir befanden uns in der Küche eines Kunden und legten gerade eine Putzpause ein. Da der Hausbesitzer Ben aufgefordert hatte, sich ruhig zu bedienen, lehnte er am Kühlschrank und trank einen Kaffee, während ich mit baumelnden Füßen auf der Arbeitsplatte saß und mir ein Mineralwasser gönnte. Die Geschichte mit dem Brief aus Dallas hatte sich erst am Abend zuvor zugetragen und ließ Ben immer noch nicht los: „Also, ich kriege ein Gefühl im Kopf, als habe mir jemand die obere Kopfhälfte weggepustet. Ich denke mir, dass dieser Schmerz etwas ist, was ich genauso auflösen kann wie eine Wolke, also tue ich das und es geht mir besser. Und dann höre ich, dass es der Frau mit der Migräne angeblich zur gleichen Zeit ebenfalls besser geht. Ist das was Besonderes oder lese ich da zu viel hinein?“
Ich war froh, das Wort „angeblich“ aus seinem Mund zu hören. „Man kann natürlich nicht ausschließen, dass es sich um einen reinen Zufall handelt“, antwortete ich und kam mir sehr weise vor. „Schmerzen kommen und gehen.“ Niemand wusste das besser als ich selbst: Seit rund fünf Jahren hatte ich so starke Schmerzen in meinem unteren Rücken, dass ich das Stipendium, das ich aufgrund meiner Fähigkeiten als Schwimmer bekommen hatte, aufgeben musste. Mittlerweile waren die Schmerzen chronisch geworden. Selbst längeres Stehen konnte sie auslösen. Verschiedenste Ärzte hatten meinen Rücken untersucht und weder an Knochen und Muskeln noch an den Nerven irgendetwas feststellen können. Wie vielen anderen Menschen blieb auch mir nichts anderes übrig, als mit den Schmerzen zu leben und sie durch Stretching-Übungen ein wenig zu lindern.
Während wir uns unterhielten, spürte ich, wie mein Rücken sich verkrampfte, und ich beugte mich unwillkürlich nach vorne. Ben lehnte mit seiner linken Schulter am Kühlschrank und gestikulierte mit der rechten Hand. Plötzlich zog er eine Grimasse, setzte die Kaffeetasse ab, fasste sich mit der linken Hand an den unteren Rücken und begann über Rückenschmerzen zu klagen.
Ich fragte ihn beiläufig, wo die Schmerzen denn sitzen würden. „Genau hier, unter meiner Hand. Mensch, das ist vielleicht merkwürdig. Der Schmerz kam ganz plötzlich, genau wie bei dem Brief.“ Er begann seine Taschen zu durchwühlen. Vielleicht trage ich ja irgendetwas von jemandem bei mir, der ein Rückenproblem hat.“ Er öffnete seine Brieftasche. „Hm, hier habe ich ein paar Schecks von anderen Leuten, aber ich glaube nicht, dass es das ist.“ Dann ging er aus der Küche, die Hand immer noch am Rücken: „Vielleicht ist es etwas in meiner Manteltasche.“
„Nein, du Dussel!“, rief ich ihm hinterher. „Komm zurück – ich bin das Problem!“ Trotz des unangenehmen Gefühls im Rücken war es mir heimlich eine Genugtuung, dass ich ihm diesmal zuvorgekommen war: „Und du bezeichnest dich selbst als Hellseher?!“
„Na toll“, sagte Ben. „Nun haben wir beide Rückenschmerzen. Hättest du deine Schmerzen nicht für dich behalten können?“ – „Ich weiß was viel Besseres“, sagte ich grinsend. „Warum heilst du uns nicht beide gleichzeitig?!“ – „Und wie soll das gehen?“ Ich ließ mich von der Arbeitsplatte gleiten und beugte mich über den Küchentisch. „Leg deine Hand hier auf meinen Rücken“, sagte ich. – „Warum, wozu soll das gut sein?“ – „Tu’s doch einfach!“
Also legte Ben seine Hand auf mein Kreuz. Die Stelle wurde sofort warm, dann heiß. Während die Wärme meine Wirbelsäule durchdrang, spürte ich, wie mein unterer Rücken in einem Bereich von rund 10 Zentimetern Durchmesser taub wurde, als hätte man mir ein Betäubungsmittel gespritzt. Bens Hand ruhte weiterhin auf meinem Kreuz und die Taubheit nahm langsam wieder ab, ausgehend vom äußeren Rand des Bereichs. Als Ben die Hand schließlich wegnahm, war der letzte Rest von Taubheit verschwunden. Der gesamte Vorgang hatte weniger als zehn Minuten in Anspruch genommen.
„Meine Rückenschmerzen sind weg!“, verkündete Ben. Ich stellte mich aufrecht hin, beugte mich nach vorne und nach hinten, drehte den Oberkörper zur Seite und berührte meine Zehen. „Was machst du da?“, fragte er mich. – „Ich versuche, den Schmerz zu finden.“ – „Also sind deine Rückenschmerzen auch verschwunden?“ – „Komplett!“
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