Doch die Diskussion ist entschieden. Zunächst konnte schon vor einigen Jahren die Substanz identifiziert werden, der die beobachteten Effekte zugeordnet werden können: Es ist das in den Schalen roter Trauben enthaltene Resveratrol, ein sogenanntes Stilben, das zur Gruppe der pflanzlichen Polyphenole gehört. (Anmerkung: Resveratrol ist unter anderem auch in Blaubeeren, bestimmten Pinienarten und der asiatischen Heilpflanze Polygonum cuspidatum enthalten; andere gesundheitlich wirksamen Polyphenole finden sich zum Beispiel in grünem Tee, Olivenöl, Orangenschalen oder im Kakao.)
Im nächsten Schritt versuchten Wissenschaftler, den genauen Mechanismus aufzuklären, der für die offensichtlichen Gesundheitswirkungen verantwortlich ist. Und dabei gab es gleich zwei Überraschungen. Resveratrol zeigte nicht nur gesundheitliche Wirkungen, sondern scheint tatsächlich den Ablauf der Alterung beeinflussen zu können. Und: Resveratrol greift über einen chemischen Schlüssel auf Zellebene direkt in die Steuerung eines Alterungsgens ein.
Welche Brisanz in dem letzten Befund steckt, können Sie aus dem Umstand ersehen, dass die an dieser Forschung beteiligten Wissenschaftler nach ihrer Entdeckung ein eigenes Biotech-Unternehmen gründeten, um sich ganz diesem Forschungsbereich und nicht zuletzt der praktischen Nutzung und Vermarktung entsprechender Produkte widmen zu können. Doch zur Vermarktung kam es erst gar nicht. Der Pharmakonzern Glaxo kaufte 2008 kurzerhand das ganze Unternehmen samt seiner Forscher und vor allem sämtlicher Rechte. Und während unsere Gesundheitsbehörden nicht müde wurden, uns Verbrauchern das ewige Lied von der Wirkungslosigkeit von Resveratrol und anderen Nahrungsergänzungen zu singen, waren Glaxo die Rechte rund um einen schlichten Traubenextrakt einiges wert. Sie legten eine dreiviertel Milliarde Dollar auf den Tisch.
Böse Zungen mutmaßten, die Pharmaindustrie wolle eigentlich nur verhindern, dass ihre Kunden durch die freie Verfügbarkeit einer Resveratrol-Pille zu gesund und damit zum Gewinnrisiko würden. Nun, in jedem Fall arbeitet der Konzern an abgewandelten und damit patentierbaren synthetischen Resveratrol-Analogen unter anderem für eine Zulassung als Diabetesmedikament. Hat Glaxo damit Erfolg, wartet ein immer schneller wachsendes Heer von Diabetikern. Die Rechnung dürfte also so oder so aufgehen. (In dem seit den 80er-Jahren drastisch zugunsten der Industrie veränderten Medizinsystem geht die Rechnung für die Pharmaindustrie immer auf. Aber wir schweifen ab.)
Resveratrol wirkt als Aktivator für sogenannte Sirtuine, einer Proteinfamilie mit verschiedenen Aufgaben rund um die genetische Zellsteuerung. Eine entscheidende Auswirkung einer solchen Aktivierung ist eine Verlangsamung der Zellalterung auf genetischer Ebene. Den ersten Praxisstudien mit Hefepilzen (30 Prozent Lebensverlängerung) folgten Untersuchungen bei immer komplexeren Organismen: Würmern, Insekten und Fischen – überall mit ähnlichem Resultat (50 bis 59 Prozent Lebensverlängerung). Studien mit Mäusen laufen bereits und könnten schon sehr bald weitere Bestätigungen liefern.
Interessant ist übrigens, dass der genetische Mechanismus einer Sirtuin-Aktivierung auch bei Nahrungseinschränkung zur Verlangsamung der Alterung beiträgt (s. Kap. II.12). Vermutungen, dass das sogar die alleinige Ursache für den Alternsbeeinflussung bei kalorischer Restriktion sei, konnten allerdings jüngst widerlegt werden.
Spätestens seit verschiedenen 2006 veröffentlichten Untersuchungen zweifelt kaum jemand der mit dem Thema beschäftigten Wissenschaftler ernsthaft daran, dass mit Resveratrol eine Substanz gefunden wurde, die auch beim Menschen die biologische Altersuhr zumindest verlangsamen kann. Noch immer unklar ist aber, welche Dosierung dazu notwendig ist. Die bisherigen Tierstudien lassen in dieser Hinsicht keine seriösen Ableitungen zu.
● Rotwein. Der Resveratrol-Gehalt schwankt je nach Sorte und Jahrgang um das Vierzigfache. Feste Angaben sind deshalb schwierig und wären wenig seriös. Im Schnitt liegt der Gehalt im einstelligen Milligrammbereich pro Liter. Bei dunklen Rebsorten vom Typ Pinot Noir (zum Beispiel Spätburgunder) wurden bisher die höchsten Konzentrationen gemessen. Da die regelmäßige Zufuhr von mehr als 30 bis 50 Millilitern reinen Alkohols mit Gesundheitsrisiken verbunden ist – unter anderem steigt bei Frauen die Brustkrebsgefahr (s. Kap. II.5) – dürfte als Zielgröße der Konsum von 150 bis 300 ml Rotwein eine zumindest tendenziell wirksame Anti-Aging-Strategie zu sein.
Bitte beachten Sie: Resveratrol ist extrem empfindlich gegenüber Wärme- und Lichteinfluss. So wird beim Öffnen einer Weinflasche der Wirkstoff nach 10 bis 20 Stunden schnell um 50 Prozent und mehr inaktiviert. Im Kühlschrank kann Resveratrol einige Tage stabil bleiben.
● Traubensaft. Da erst der lange Fermentierungsprozess bei der Weinherstellung für einen starken Austritt von Resveratrol aus den Schalen sorgt, ist der Gehalt im kurzgepressten Traubensaft 10- bis 30-fach geringer. Safthersteller untersuchen derzeit, ob eine Erhitzung während des Pressvorgangs diesen Nachteil ausgleichen kann.
● Trauben. Frische rote Trauben stellen eine ausgezeichnete Quelle dar. Etwa 100 Gramm dürften im Bereich eines halben bis ganzen Liters Rotwein liegen. Problematisch ist hier die zur optimalen Wirkung notwendige ständige Verfügbarkeit frischer Trauben.
● Rosinen. Aufgrund der leichten Oxidierbarkeit wird Resveratrol beim Trocknungsvorgang weitgehend zerstört.
● Nahrungsergänzungsmittel. Nach Herstellerangaben enthalten entsprechende Produkte 5 bis 100 Milligramm Resveratrol. Anders als bei sonstigen Supplementen besteht hier eine Unsicherheit, da beim Herstellungsprozess die hoch empfindliche Substanz schnell zerstört werden kann. In den Alterungs- oder Gesundheitsstudien wurden überwiegend Dosierungen von 20 bis 200 mg verwendet (direkt beim Menschen oder auf das Gewicht eines Menschen umgerechnet). Schon 20 mg entsprechen je nach Sorte 2 bis 13 Flaschen Rotwein.
● Arzneimittel. Die Entwicklung eines auf Resveratrol basierenden Arzneimittels ist in USA bereits eingeleitet. Das Zulassungsverfahren kann sich allerdings noch Jahre hinziehen. Sicher ist schon jetzt, das Präparat wird teuer werden und nur für eine Krankheit zugelassen sein. Die Zulassung als Mittel gegen das Altern selbst ist in unserem Medizinsystem ausgeschlossen, egal, wie wirksam oder sicher ein Wirkstoff ist.
Auf genetischer Ebene wirkende Alternsinterventionen
● Kalorische Restriktion: s. Kap. II.12
● Hormonelle Optimierung: Schilddrüsenhormone, Steroidhormone (Östradiol, Östron, Östriol, Testosteron, Progesteron, DHEA), Melatonin u. a.
● Biowirkstoffe (s. u.)
● Radikale (bzw. deren Modulation): s. Kap. II.2
Hinter dieser vereinfachten Bezeichnung verbirgt sich eine veritable Verschwörung alternsauslösender Prozesse. Und das Verständnis der Radikale lässt uns wie kein anderer Bereich hinter das Wesen der Alterung blicken. Genau das bestätigt auch die aktuelle Genforschung. Radikale bilden die typische Schnittstelle, an der genetische Alterungscodes in reale Alternsprozesse übersetzt werden.
Tatsächlich üben sogar die meisten der am Altern beteiligten Gene ihre Wirkung über Vorgänge um die Radikale aus. Und es existiert eine starke Wechselbeziehung. Beeinflusst man die Radikalbildung insgesamt oder in einem Körperbereich, hat das immer auch Auswirkungen auf Alternsvorgänge. Zusätzlich zu dieser unmittelbaren Wirkung stellen Radikale Schalter dar, die komplette Alternsprogramme auf der Ebene der Gene an- oder eben abschalten können.
(Literatur zum Thema des jeweiligen Kapitels: siehe Anhang)
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