Neue Herausforderungen verlangen nach neuen Antworten
Die besondere Situation beim Thema Alterung machte eines sehr bald deutlich: Anders als bei der Zulassung von Medikamenten gegen Krankheiten können Behörden auf dem Gebiet der persönlichen Prävention nicht die Rolle des Vormunds für jeden Einzelnen einnehmen. Aus diesem Grund wurde in den USA und anderen Ländern den Bürgern die Nutzung von Mitteln wie hoch dosierten Vitaminen, Melatonin, DHEA oder Antioxidantien in Eigenverantwortung ermöglicht; und das geschah nicht etwa, weil die Behörden dort weniger sicherheitsorientiert wären als bei uns.
Der wichtigste Punkt: Die Beweislast wurde umgekehrt. Um jetzt erwachsenen Personen die Nutzung eines Wirkstoffs oder einer bestimmten Therapie für die persönliche Prävention zu verbieten, müssen Medizinbehörden ihrerseits eindeutige Belege für eine relevante gesundheitliche Gefährdung vorlegen. Der über Jahrzehnte alles blockierende Verweis auf angeblich nicht ausreichende Wirksamkeits- und Sicherheitsbeweise ist damit nicht mehr möglich beziehungsweise nun auf das reduziert, was er sein soll: ein Warnhinweis. Das hat die gesamte Situation grundlegend verändert.
In Deutschland hingegen versucht man immer noch, das Thema Alterungsprophylaxe in die Paragrafen althergebrachter Verordnungen des Gesundheits- und Medikamentensystems zu pressen. Ein Zustand, der nicht nur die praktische Umsetzung präventiver Strategien erschwert, sondern bereits vom Ansatz her den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen dieses immer wichtiger werdenden Bereichs nicht gerecht wird.
Bleibt abzuwarten, wie lange man in Deutschland auf diesem Gebiet den Entwicklungen in anderen Ländern hinterherhinkt. Letztlich wird allein der Druck aus der Bevölkerung die Lage verändern können. Dieses Buch soll deshalb dazu beitragen, nicht nur das Wissen, sondern auch die praktischen Möglichkeiten für aktive Alternsintervention zu verbessern. Die Zeit ist reif!
„Ich brauche Informationen. Eine Meinung bilde ich mir selbst.”
CHARLES DICKENS [englischer Novellist, 1812–1870]
Ein Tummelplatz für Schwindler
Kaum ein Gebiet der Wissenschaft ist so von unterschiedlichen Interpretationen, gegensätzlichen Meinungen und persönlichen Auffassungen geprägt wie die experimentelle Gerontologie, die sich mit konkreten Maßnahmen zur Beeinflussung des Alterns beschäftigt. Das gilt ganz besonders für die praktische Alternsbeeinflussung beim Menschen.
Bereits in seinem Bestseller von 1798 (Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern) stöhnte der berühmte Arzt Wilhelm C. Hufeland genau über diese spezielle Problematik. Dabei war die Unterscheidung zwischen seriösen und unseriösen Empfehlungen zum Thema Lebensverlängerung bis in die Neuzeit vergleichsweise einfach. Aufgrund des geringen Wissens um die Ursachen der Alterung waren die meisten feilgebotenen Jungbrunnen eher Strohhalme der Hoffnung als Ergebnis wissenschaftlicher Forschung.
„Dieses Problem war schon immer ein bevorzugtes für die klügsten Köpfe, ein Spielfeld für Tagträumer, und die größte Verlockung für Scharlatane und Schwindler.”
WILHELM CHRISTOPH HUFELAND [deutscher Arzt und Begründer der Makrobiotik, 1762–1836]
Für viele immer noch ein Tabuthema
Als sich im 20. Jahrhundert ernsthafte Wissenschaftler mit der Frage beschäftigten, wie eine Verjüngung beim Menschen praktisch möglich sein könnte, geschah etwas Merkwürdiges: Es änderte sich nämlich nichts an der Vorverurteilung der Praktiker. Nach wie vor genügte allein die Beschäftigung mit diesem Thema, um als unseriös zu gelten. Bis in die Gegenwart blieb der menschliche Alterungsprozess für Religiöse eine göttliche Bestimmung, für andere ein unumstößliches Naturgesetz und für wieder andere ein wissenschaftliches Mysterium, das sich kaum erschließen lässt. Und wenn, dann bestimmt nicht mit „einfachen“ Methoden.
„Schritt 1: Tragen Sie die Wunder-Cellulite-Creme auf die Problemzonen auf. Schritt 2: Laufen Sie 15 Kilometer.“
„Es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom.”
ALBERT EINSTEIN [deutscher Physiker und Nobelpreisträger, 1879–1955]
Hohn und Spott für einige der wichtigsten Entdeckungen
Dies musste auch ein junger Wissenschaftler mit Namen Clive McCay erfahren, als er 1934 vortrug, der Alterungsprozess lasse sich in erheblichem Maße verzögern; und zwar allein durch Verringerung des Energieumsatzes mithilfe von Nahrungseinschränkung. Von den „seriösen“ Wissenschaftlern gab es Gelächter und bestenfalls mitleidige Minen.
Die Vorverurteilung war so absolut, dass niemand sich dafür interessierte, ob die von McCay gewonnenen Daten korrekt erhoben worden waren oder nicht. Sie waren es. Dennoch hat es ein halbes Jahrhundert gedauert, bis McCays Ergebnisse allgemein anerkannt wurden. Heute gilt die sogenannte kalorische Restriktion als die sicherste und sogar effektivste Methode, um Alterungsprozesse drastisch zu verzögern und die Lebensspanne entscheidend zu verlängern (vgl. II.12).
Anderen erging es noch schlimmer. Der Physiologe Eugen Steinbach unternahm noch vor McCay Studien zur Verjüngung. Er versuchte, unter anderem durch Drüsenverpflanzungen bei Tieren verjüngend wirkende Hormonveränderungen hervorzurufen, und erzielte damit beachtliche Erfolge. Als er seine Ergebnisse aber an jenem 5. Dezember des Jahres 1912 an der Wiener Akademie der Wissenschaften vortrug und von der Möglichkeit sprach, auch beim Menschen Alternsprozesse zu beeinflussen, sah er sich nur Anfeindungen gegenüber. Die Verunglimpfungen seitens seiner Kollegen wurden trotz oder gerade wegen des steigenden Interesses der Bevölkerung so erdrückend, dass Steinbach ins Exil ging und völlig resignierte. Heute, lange nach seinem Tod, gilt Eugen Steinbach als einer der Pioniere der Hormonbehandlung.
Doch die Problematik hat sich auch beim Thema Hormone bis ins 21. Jahrhundert nicht grundlegend geändert. Während Hormonsubstitutionen aus medizinischen Gründen (zum Beispiel Insulin) oder auch wegen des Lifestyles (Antibabypille) mittlerweile Routine sind, werden Ärzte, die Hormone gezielt gegen degenerative Alterung einsetzen, pauschal kritisiert. Staatliche Forschungsgelder gibt es kaum. Dabei lassen sich reparative und präventive Wirkungen oft nicht trennen. Ein Beispiel ist die Hormonoptimierung bei Frauen nach der Menopause (siehe Kapitel II.5).
„Wahrheiten werden, solange man sie nicht begreift, Dummheiten genannt.”
DANIEL SPITZER [österreichischer Satiriker, 1835–1893]
Vorsicht bei Übertragung von Tierstudien auf den Menschen
Nur ein Teil der Vorgänge beim menschlichen Alterungsprozess kann direkt am Menschen untersucht werden. Tierstudien sind deshalb in der experimentellen Gerontologie unverzichtbar und haben sich auch als äußerst reliabel erwiesen. Spätestens aber, wenn man die gewonnenen Erkenntnisse praktisch am Menschen anwenden will, wird die Frage nach der Übertragbarkeit neu aufgeworfen – zu Recht. Denn Tiermodelle können keineswegs immer eins zu eins auf den Menschen übertragen werden.
Lebensverlängerung durch Gelée royale?
Ein Beispiel dafür, wie Tierstudien fehlinterpretiert und damit in Misskredit gebracht werden, ist Gelée royale, der Futtersaft, mit dem Bienenköniginnen aufgezogen werden: Bienen leben nur etwa drei Monate. Werden sie aber im Larvenstadium nicht mit Honig, sondern mit dem ebenfalls von den Bienen produzierten Gelée royale gefüttert, entwickeln sie sich zu Königinnen mit einer Lebensspanne von mehreren Jahren. Entsprechend wurden in der Laienpresse Hoffnungen genährt, beim Menschen wirke dieser Saft ebenfalls lebensverlängernd. Das ist nicht der Fall. Ursache für diesen Effekt bei Bienen ist eine genetische Besonderheit, die bei anderen Insekten nicht vorliegt – und beim Menschen erst recht nicht.
Читать дальше