Es war in Ordnung, dass eine fertige Ärztin mit jahrelanger Ausbildung und Erfahrung in Medizin und geistigem Heilen das machte. Aber ich? Ausgerechnet ich! Ich hatte niemals mit jemand zu tun, der sich auch nur den Knöchel verstaucht hatte, geschweige denn ernstlich krank war.
Damals galt es schon als sehr fortschrittlich, wenn man diese Art des Heilens auch nur in Erwägung zog. Für uns waren die Besuche bei Nell so ziemlich das Äußerste, wozu wir bereit waren. Rückblickend hat mich das Universum bei manchen Gelegenheiten mit manchem Rückwärtssalto verblüfft, aber es hatte mich nie so unmittelbar mit einer so ungeheuerlichen Idee konfrontiert.
Nun war es geschehen.
Heute, dreißig Jahre danach, sitze ich hier in Deutschland und schreibe dieses Buch (die erste Fassung); dabei bin ich mir sehr wohl bewusst, welche Auswirkungen Nell in meinem Leben anstieß. Sie wusste einfach, dass jede und jeder so etwas kann! Dafür ist kein Guru-Trip notwendig! Nicht nötig, ein Aussteiger zu werden! Es braucht nichts weiter als eine gute Tasse Tee, ein sonniges Zimmer und die Bereitschaft, anderen zu dienen.
Danke, Nell, … wo immer du bist …, hier ist ein „Schüler“, der dir auf ewig dankbar ist.
Neuseeland hat bekanntlich von allen erreichbaren Orten aus die größtmögliche Entfernung – es sei denn, Sie leben dort, dann ist es einfach der Mittelpunkt Ihres Universums.
Neuseeland ist vorwiegend ein Agrarland mit nur vier Millionen Menschen und 80 Millionen Schafen. Man munkelt, dass die meisten Politiker in Wirklichkeit wiedergeborene Schafe sind.
Obwohl es so ein kleines Land ist, kommen hier fast alle geografischen Merkmale vor, die sonst auf der weiten Welt verstreut vorhanden sind! Neuseeland gleicht einem geografischen Reiseführer für das Universum in Taschenausgabe.
Ein Neuseeländer hat den Bungeesprung erfunden, ein anderer die Schädlingsbekämpfung aus der Luft. Neuseeland war das erste Land, in dem die Frauen das allgemeine Wahlrecht bekamen, und das erste (und einzige?), das sich als ganze Nation zur kernkraft- und atomwaffenfreien Zone erklärte.
Und es schenkte der Welt die Kiwifrucht!
Die Maori von Aotearoa (Neuseeland) hatten die höchste Steinzeitkultur, die überliefert ist. 1Diese neolithische Kultur beruhte auf einem komplexen Sozialwesen.
Die Maori sind bekannt für ihre Naturverbundenheit und den Respekt der Natur gegenüber.
Sie sind die größte Gruppe der Polynesier, die sich als Seefahrer im Pazifik einen Namen gemacht haben. Ihr Gebiet umfasst Hawaii, Tahiti, die Cookinseln, Samoa und Hunderte von Atollen und Inseln.
Nach der polynesischen Kosmologie gibt es keine Trennung zwischen Zeit und Raum. Die moderne Physik fängt gerade erst an, dieses Konzept wissenschaftlich nachzuvollziehen.
Wenn wir dem zustimmen, dann stimmt es auch und ist wahr, dass alle unsere Vorfahren und Nachkommen genau jetzt existieren und den Kosmos gemeinsam mit uns erleben.
Ich hatte Glück, weil meine Mutter, lange bevor sie anfing zu schreiben, als Krankenschwester in einem Krankenhaus auf dem Lande arbeitete und mit den Heilmethoden der Maori sehr vertraut war. Sie sprach nicht oft darüber in aller Offenheit, aber wenn, dann hörte man unterschwellig ihre Achtung für diese Vorstellungen heraus und etwas ganz Tröstliches.
Bekamen Sie jemals, vielleicht zum Geburtstag oder zu Weihnachten, ein Geschenk und wussten dann nicht recht, wie Sie sich bedanken sollten, weil Sie das Ding nicht wirklich brauchten?
So ging es mir. Ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Ja, ich hatte nicht einmal eine Idee, was es war! Es, … nun ja, es geschah einfach irgendwie.
Tatsächlich brauchte ich sehr lange, bis ich selbstverständlich damit umgehen konnte.
Was die Sache noch komplizierter machte: Erst in den letzten Jahren wurde die Möglichkeit anerkannt, dass ein Mensch ohne ersichtliche Intervention unmittelbar auf den körperlichen Zustand eines anderen einwirken kann.
Heute ist das Allgemeinwissen.
Doch damals bemerkte ich nur, dass etwas Ungewöhnliches um mich herum vor sich ging, weil mich häufig Menschen um Hilfe bei ihren Problemen ansprachen. Wenn ich einmal eine Freundin hatte – und das geschah selten genug –, war ich immer wieder frustriert, weil sie alle nur reden wollten!
Oft kamen kranke Tiere zu mir.
Wenn Sie diese natürliche Begabung haben, klopft Ihnen niemand auf die Schulter und sagt: „Richtig, im nächsten Semester studieren Sie Heilung Nr. 101. Sie haben nur eine 4 in Mathematik, deshalb ist Heilung der geeignete Kurs für Sie, fangen Sie schon an zu lesen.“
In den westlichen Kulturen stößt die Vorstellung, dass ein Mensch den Gesundheitszustand eines anderen unmittelbar verändern kann, immer noch auf Misstrauen. Eine rühmliche Ausnahme ist die katholische Kirche.
Welch eine Überraschung für mich! In einem Interview mit mir bei Radio Pittsburgh entgegnete Ron Lindgren, der damalige Pressesprecher der katholischen Kirche in den USA, einem skeptischen Anrufer: „Wir sollten nicht überkritisch sein, denn viele Jahrhunderte hat die Kirche Wunderheilungen anerkannt. Wir haben immer zugegeben, dass manche Menschen die Fähigkeit besitzen, geistige oder körperliche Veränderungen bei Kranken herbeizuführen.“
Die Aufzeichnungen belegen, dass die meisten Heiligen deshalb heiliggesprochen wurden, weil ihre heilerische Fähigkeit wie ein Wunder aussah.
Glücklicherweise drohen einem Heiler im 21. Jahrhundert nicht mehr Folter und Exkommunikation – wie das früher der Fall war, wenn er nicht gerade Priester war.
Der berühmte russische Schriftsteller Leo Tolstoi wurde exkommuniziert, weil er 1895 wagte, ein Buch zu schreiben mit dem Titel Das Himmelreich in euch; in die heutige Sprache übersetzt heißt das: Jeder ist von Natur aus ein Heiliger, ein Heiler, ein Held.
Das erste Buch, das ich von vorn bis hinten las, war Tolstois Krieg und Frieden. Mein ältester Bruder Ralph hatte es mit nach Hause gebracht und wollte es gerade lesen, als ich es mir schnappte und buchstäblich verschlang! Diese Geschichte weckte meine Faszination für Tolstois Russland. Noch ohne jede Vorstellung davon, dass ich später einmal für so viele Jahre meines Lebens dort leben würde. (Ja, mir bot sich dann sogar die unglaubliche Gelegenheit, auf dem Stuhl zu sitzen, auf dem Tolstoi seine Bücher geschrieben hatte, und sein schlichtes Grab besuchte ich im Wald, den er so liebte. Schauen Sie sich den Film Die letzte Station an, über die letzten Wochen seines Lebens!)
Ständiges Lesen steigerte meinen ohnehin starken Wunsch zu reisen; allerdings nahm ich noch kaum zur Kenntnis, dass polynesische Heiler – Kahili King beschreibt das in seinem Buch Der Stadtschamane – auf zweierlei Arten Wissen erwerben: tohunga, die Art der Maori, und kahuna, die hawaiianische Art:
Bei der einen sitzt man einem Lehrer zu Füßen und hat ziemlich dieselbe Beziehung wie zwischen Guru und Schüler in Indien.
Bei der anderen erwirbt man Wissen durch unermüdliches Reisen, finanziell (mehr oder weniger!) unterstützt durch seine Fähigkeit, anderen Menschen zu dienen. Man begegnet Dutzenden von Lehrern, hört sie an, ohne sich einem Einzelnen in besonderer Verehrung anzuschließen.
Könnte das auf mich zutreffen? Könnte es sein, dass ich ein Seefahrer bin? Ein Reisender, der überall zu Hause ist!
Ich werde jetzt nicht so tun, als ob „Gott“ mich eines Morgens angerufen hätte, ich mit bebenden Händen und einem andauernd leuchtenden Heiligenschein erwacht wäre und mein Geist seither ringsherum bedingungslose Liebe und Frieden ausströmte.
Nein, tut mir leid; das wäre eine tolle Geschichte gewesen! Die Wahrheit ist, dass ich jeden Gedanken an eine Begabung oder eine Aufgabe verscheuchte, bevor ich ihn denken konnte.
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