»Schloß Liebau«, Privatexemplar mit blauem Cover.
»Schloß Liebau«, Originalausgabe.
Diese erste Greizer Triennale haute dann schließlich ganz ordentlich hin, indem in zähem Zerren und Schieben die schlimmsten Eigennutz- und wirrsten Einzelgängerambitionen etwas gebremst und entschärft werden konnten. Michel aber, ähnlich wie Gotthard Brandler, hatte mit den ernüchternden Seiten der Erfahrungen aus diesen Gremien- und Schwitzkastenquälereien lange ungut zu tun, und er nahm diese Heimsuchung wohl als typisch maligne Standardsituation deutsch-deutschen Würgens und Strauchelns: Raffgier und plumper Egoismus aus dem Westen, dusseliges Auf-dem-Schlauch-Rumstehen als klischeegerechte Ostlerattitüde. Schlimme weitere Raubzüge in Richtung der Kassen des Sommerpalais in der Folgezeit sollten ihm, was den ersten Punkt angeht, alsbald drastisch recht geben.
Greiz, Gartenweg, 1992.
DISKO-MICHEL – Andersgeartete deutsch-deutsche Missionsszenen auf gediegen unterirdischem Niveau, die pfeilgerade an das gemeinsam mit Michel am verregneten 1990er Sommerabend im Bargfelder Gasthof Erlebte anschließen, durften wir Westler später, ab 1992, während draußen in der noch richtigeren Welt die größeren Realien verräumt wurden, aufs gemütlichste im Greizer Alltags- und bisweilen auch im dortigen Nachtleben immer mal wieder miterleben. Unvergessen bleiben wunderschön schäbig herausgeputzte, besonders an Wochenenden der »frühen Jahre« der Einheit in ihren spoilerbeklebten Autos aus den nahen oberfränkischen Urwäldern herbeigewuselte Freizeiter, die mit Wucht alles, was sie aufzubieten hatten, daransetzen wollten, um etwa in der traumhaft deprischummerigen Tanzbar Trocadero den anwesenden Greizer Jungdamen zu imponieren – nicht selten mit, entsprechend ihren Mitteln, angemessen geringem Erfolg. Eines späten Abends, als ich gemeinsam mit weiteren Sommerpalais-Vernissagegästen wieder einmal derartigem Elendsgewurstel zusehen durfte, blickte Michel Rudolf auf die von einer sich drehenden Silberplättchenkugel zittrig lichtbefunkelte Tanzfläche, an deren Rand und auf der sich ein paar besonders hinfällige, aus dem Altreich hergeschleimte Dummkrepel und Sackkratzer zäh um desinteressierte Greizer Mädels mühten, und meinte, mit viel nachsichtgesättigter Milde in der Stimme: »Ah, der Großinvestor tanzt.«
Zeichnung: Nerling.
ÜBER MUSIK REDEN – Unter Laien, eventuell auch noch im Kreis Begeisterter, über populäre Musik zu reden, erbringt selten mehr Gescheites, als sich etwa gegenseitig Filmhandlungen nachzuerzählen, und nervt meist arg. Soweit waren Michel und ich uns beim Thema Rockmusik einig. Trotzdem waren wir, als Michel mal kurz bei mir zu Besuch weilte, während einer Autofahrt spätabends ins Plaudern über seine große Liebhaberei für elektrische Gitarrenmusik, für »gefährliche Gitarristen« geraten. Freude konnte ich ihm unter anderem damit bereiten, daß ich ihm haarklein von Konzerten des Mahavishnu Orchestra im Jahr 1972 berichtete, bei denen dieses Quintett des Gitarristen John McLaughlin mit seinem brillant-mordspenetranten, hymnisch jubilierenden Radau etliche Lücken zwischen Rock und Jazz verspachtelte. Wir fachsimpelten an der Frage herum, ob die große Leistungssportlichkeit derartiger Virtuositätswucht rückblickend besehen zu Recht auch ein wenig komisch anmutet; machten Witze von wegen Strebertum, zu eitler, vielleicht arroganter Pose bei diesem irgendwie quasibuddhistisch-feinstofflerisch aufgemotzten Gedröhn. War McLaughlin in der Schule vielleicht so ein »Schnellmelder« gewesen, so ein immer fickriger Fingerschnipser, der mit seiner Antwort den Lehrer schon mitten in der Frage rechts und links zugleich überholen wollte? Oder ein »Nervenzippelzappel«? Stünde vielleicht gar der Geist allgemeiner Ejaculatio-Praecoxhaftigkeit ungut im Raum? So etwa sinnierten wir vor uns hin und kamen wieder zu Michels Hinweisen auf mir unbekannte Hardrock-Radaubrüder. Es ging um Jeff Beck, Jimi Hendrix und Frank Zappa und um die Frage, was es rund um deren Herkommen denn so alles Interessantes gebe. Michel hatte in dieser Hinsicht einige Favoriten im Sinn: die jüngeren elektrischen Bluesgitarristen aus den größeren Städten Amerikas und unter den Älteren sowieso immer John Lee Hooker, Howlin’ Wolf oder B. B. King. Sein Herz schlug für die Elektriker, am lautesten für jene, die etwas heftiger zu Werke gehen.
So blieb er erst mal skeptisch, als ich ihm in Aussicht stellte, bei mir zu Hause nachher Schallplatten zu hören, an denen man bei Jimi Hendrix und Konsorten zu bestaunende Muster des sehr schön am eher ländlichen und am betont dezenter formulierten Blues vernehmen könne. »Country Blues? Nee …« Das schläfere doch wohl bestenfalls die Füße ein. Über so was sei man doch längst hinweg. Daheim dann, kurz vor dem Zubettgehen, Michel hatte schon den ersten Schlummerschluck aus einem Fläschchen Parkbräu-Pirminator-Starkbier zur Kenntnis genommen und war eh schon reichlich müde, spielte ich ihm eine LP des Gitarristen und Sängers Lightnin’ Hopkins aus Texas vor, Lightnin’ Strikes , aufgenommen 1965 gemeinsam mit dem Bassisten Jimmy Bond, dem Schlagzeuger Earl Palmer und dem Mundharmonikaspieler Don Crawford, produziert von Dave Hubert für das Label Verve-Folkways (FV/FVS 9022). Und gleich bei den ersten paar Takten des ersten Stückes, »Hurricane Betsy«, einem so tieftodtraurigen wie gleichermaßen vom Künstler aufrecht und geradeaus vorgetragenen, wunderschön melismatisch dahererzählten Lied, rutschte Michel beinahe sein Bierflaschl aus der Hand. So schwebend leicht und zugleich intensiv, in zauberhaft geschmeidigen Takten swingend wie vier morganatische Schweizer Sonntagsuhrwerke, die gemeinsam in den Musikantenhimmel wollen, hatte er ähnliches bisher nie gehört. Ein von Mätzchen völlig freies, bei sparsamstem Mitteleinsatz in filigranen Nuancen ausformuliertes Volksmusikstück über eine schlimme, böse Naturkatastrophe, in die Welt gestellt als lupenreine moderne Kunst; genau besehen eigentlich eine der Ewigkeit gewisse Sternstunde des Jazz. Michel nahm jeden Ton als Welturaufführung, war wieder hellwach geworden und murmelte vor sich hin, Könner wie Jimi Hendrix oder Bob Dylan hätten es mit solchen Vorvätern im Ohr doch ziemlich plausiblerweise zu Prachtstücken wie »Red House« oder »Desolation Row« bringen können.
Diese so diskret und konträr zu jeder Aufregung über die Welt und ihren Untergang klagende, freundliche Musik berührte Michel mehr, als daß sie ihm nur gut gefallen hätte. Um noch ein paar ähnliche Stücke von Mance Lipscomb, Mississippi John Hurt, Son House und J. B. Lenoir zu hören, blieb er dann ein halbes Stündchen länger wach, als er es nach einem anstrengenden Reisetag und einer turbulenten Ausstellungseröffnung eigentlich vorgehabt hatte. Und als wir später schlafen gingen, hörte ich aus seinem Zimmer, wie er sich leise noch mal die drei, vier schönsten Juwelen von der Lightnin’ Strikes -LP anhörte.
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