Massu betrat das Haus. Die Villa verfügte über einen großen und einen kleinen Salon, einen imposanten Speiseraum, ein Zimmer, in dem ein Billardtisch stand, eine Bibliothek und sechs Privatgemächer, darunter die Schlafzimmer und zwei Küchen. Das Anwesen hatte ursprünglich der Prinzessin Marie Colloredo-Mansfeld gehört, einer 67-jährigen Französin. Die Familie ihres Mannes vererbte den kaiserlichen Titel schon seit 1763. Noch in den Dreißigern lebte im Haus dann die französische Schauspielerin Cécile Sorel, Comtesse de Ségur, ihres Zeichens Doyenne der Comédie Française, wie ein Concierge aus der Nachbarschaft berichtete.
Der derzeitige Besitzer war der Öffentlichkeit indes nicht so bekannt wie die Prinzessin oder die Schauspielerin. „Der Name Marcel Petiot sagte mir gar nichts“, musste Kommissar Massu später zugeben. Er hörte ihn an diesem Tag zum ersten Mal.
Doch eines erkannte Massu auf den ersten Blick – der Besitzer war ein leidenschaftlicher Sammler erlesener Kunstgegenstände. In den meisten Räumen fanden sich kristallene Kronleuchter, orientalische Teppiche, antike Möbel, Marmorstatuen, Vasen der Manufaktur Sèvres und Ölgemälde in vergoldeten Rahmen. Allerdings wirkten die prunkvollen Kunstwerke vernachlässigt. Sie waren staubig, und Spinnweben hingen an ihnen. Möbel lagen umgestürzt auf dem Boden oder standen gestapelt in Ecken, was schnell an einen Trödelmarkt denken ließ. In verschiedenen Räumen und Fluren hing die Tapete von der Wand herunter, die Fußleisten waren losgerissen und Panelen lugten aus der Wandverkleidung hervor. Massu entdeckte exquisite Möbel aus der Zeit Ludwigs XV., die neben verdreckten Chaiselongues standen, bei denen man schon die hervorstehenden Federkerne sah.
Als ein Polizeibeamter die Warnung aussprach, dass der Fall sich als hochgradig schockierend erweisen würde, beeindruckte das Massu nicht im Geringsten. Er hatte das schon zu oft gehört. Zu Beginn fast jeder neuen Ermittlung bemerkte ein Beamter, dass man hier einem entsetzlichen Verbrechen auf der Spur sei. Massu hegte auch keinen Zweifel daran, denn als Chef der Mordkommission war er die Untersuchung schrecklicher und verstörender Fälle gewohnt.
Doch der sich ihm bietende höchst makabere Anblick im Keller der Rue Le Sueur Nummer 21 versetzte sogar Massu einen Schlag: Sein Blick fiel auf ein halbverbranntes Schädelfragment im Ofen und einen Haufen aus Schienbein- und Oberschenkelknochen sowie weiteren Skelettstücken. Er sah einen Fuß, „tiefschwarz wie ein langsam verbrannter Holzscheit“. Eine abgetrennte Hand, deren Finger sich zu einer Faust geballt hatten, schien „voller Verzweiflung in der Luft zu gestikulieren“. Der Torso einer Frau lag herum, bei dem das Gewebe „weggerissen schien, was die Splitter des zerschmetterten Brustkorbs erkennen ließ“. Der Gestank – „ein böser Geruch gerösteten menschlichen Fleischs“ – drang unerbittlich in Massus Nase.
Nur wenige Schritte entfernt fand er eine Schaufel, ein mit einer dunklen Substanz verschmiertes Beil und, verborgen unter der Steintreppe, einen grauen Sack, der die linke Seite einer verwesenden Leiche enthielt, jedoch nicht den Kopf, den Fuß und die inneren Organe. Massu wusste nicht, wie er den grauenerregenden Ort beschreiben sollte, ohne die mittelalterliche Literatur zu zitieren. Der Keller der eleganten Villa ähnelte einer Szene aus Dantes Inferno.
Massu machte sich zusammen mit Bernard auf den Weg in den engen Innenhof. Dort traf er einige Ermittler, darunter Oberinspektor Marius Battut. Gemeinsam betraten sie eines der kleineren hinteren Gebäude. Im ersten Raum standen ein polierter Schreibtisch mit zwei Ledersesseln, ein gemütliches Sofa und ein kleiner Rundtisch, auf dem Magazine lagen. Ein großer Schrank voller Arzneimittel befand sich an einer Wand. Genau gegenüber hing ein Bücherschrank mit gläsernen Türen, in dem sich Sachbücher zum Thema Medizin aneinanderreihten. Den Kommissar verblüffte die Ordnung des Raums. Er befand sich in einem weitaus besseren Zustand als die meisten Zimmer der stattlichen Villa und war wesentlich sauberer und aufgeräumter. Auch schien er erst kürzlich renoviert worden zu sein. Massu öffnete eine zweite Tür neben dem Bücherschrank, die in einen schmalen Korridor führte, ungefähr 90 Zentimeter breit. Am Ende des Ganges lag eine weitere Tür, gesichert mit einer dicken Kette und einem massiven Vorhängeschloss. Die Ermittler verschafften sich Zutritt zu dem dahinterliegenden Raum. Es war eine kleine, fast dreieckige Kammer mit sehr dicken Wänden. Eine der Wände war mit einer beigen Tapete beklebt, die anderen hatte man lediglich verputzt. Es gab weder Fenster noch Möbel, sondern nur zwei nackte Glühbirnen und eine schlichte Pritsche aus Metall. In den Ecken, ungefähr einen Meter unterhalb der Decke, hatte man an den Wänden eiserne Haken befestigt.
Eine Doppeltür am Ende des Raumes, der Rahmen mit Blattgold verziert, schien sich zu einem großen Salon hin zu öffnen. Als einer der Inspektoren sie aufmachen wollte, drehte sich lediglich der Türgriff. Mithilfe einer Brechstange hoben die Beamten die Tür schließlich aus den Scharnieren, wobei sie bemerkten, dass es sich nur um eine Attrappe handelte. An der rechten Seite der falschen Tür sahen sie eine Klingel, die aber nicht funktionierte. Sie war nicht angeschlossen, da man die Kabel von außen durchtrennt hatte. Massu sah sich in dem dreieckigen Zimmer um und entdeckte voller Erstaunen, dass sich an der Innenseite der Eingangstür keine Klinke befand.
Bei näherer Betrachtung der beigen Tapete fiel Bernard auf, dass man sie erst kürzlich geklebt hatte. Behutsam riss er sie ab und sah eine Art Spion mit einem vergrößernden Okular, ungefähr in einer Höhe von 1,80 Metern angebracht. Der Verwendungszweck der Kammer lag nicht klar auf der Hand, jedoch verspürten die Beamten ein tiefes Unbehagen. Ein kleiner Raum mit praktisch schalldichten Wänden und Eisenhaken in den Ecken – waren die Opfer hier ihrem schrecklichen Schicksal ausgeliefert gewesen?
Nachdem sich Massu und die Ermittler wieder in den Hof begeben hatten, nahmen sie das alte Fuhrwerkshaus unter die Lupe, das nun als Garage diente. In dem dort herrschenden Chaos lagen Werkzeuge, ungehobelte Bretter, Eimer für einen Wischmopp, große Pinsel, Gasmasken und alte Matratzenfedern herum. Eine Schiebetür an der hinteren Wand führte in ein weiteres Gebäude, möglicherweise den ehemaligen Stall. Dort, auf dem Boden hinter einem Haufen verrosteten Eisenschrotts, lag eine Abdeckplatte aus Metall, unter der die schrecklichste Entdeckung dieser Nacht auf die Ermittler wartete.
Es war der Eingang zu einer Grube. Ein frisch geschmierter Flaschenzug mit einem dicken Seil, zu einer Schlinge geknüpft, hing über dem Loch. Der bestialische Gestank ließ keinen Zweifel zu, was sich dort unten befand. Trotzdem kletterte Massu die Holzleiter hinab und achtete bei jedem Schritt auf die rutschigen Sprossen. Alsbald fand er sich in einem abstoßenden Bodensatz – man konnte es beinahe schon einen Sumpf nennen – aus Löschkalk und Leichen in den verschiedensten Stadien der Verwesung wieder. Es war die Müllhalde eines wahrhaftigen Schlachthofs.
Doch wer konnte genau wissen, wie viele Leichen hier unten lagen? Angesichts einer Tiefe von geschätzten drei bis dreieinhalb Metern waren es auf jeden Fall mehr Tote als im Keller des Hauptgebäudes. Massu drehte sich auf dem Absatz kurz zur Seite, um einen genaueren Blick in die Grube zu werfen. Unter den Schuhsohlen hörte er brechende Knochen. Als der Kommissar aus dem Loch stieg, verbreitete seine Kleidung einen ekelerregenden Gestank. Unverzüglich ließ er Spezialisten des Polizeilabors kommen, um die knöchernen Überreste für die Analyse zu bergen, denn seine Assistenten hatten sich angewidert geweigert, tätig zu werden. Wie Massu berichtete, wirkten sie so verängstigt, als wären sie dem Teufel persönlich begegnet.
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