Koschmider, der sich seine neuesten Abendunterhalter von den hinteren Plätzen aus ansah, hielt sie für hoffnungslos. Die Musik mochte ja ganz in Ordnung sein. Aber wieso gaben sie sich so ruhig und bescheiden? Wieso standen sie da nur so rum, wo doch Rock ’n’ Roll etwas so Aufregendes sein sollte?
Macht Schau!, schrie er sie an. Zeigt mal was! Bewegt euch zur Musik! Tut so, als hättet ihr Spaß! Und sie taten, was er sagte. Nicht mit den coolen, sorgsam einstudierten Schritten, die Cliff Richard und die Shadows so beliebt gemacht hatten – wer hätte schon die Zeit gehabt, so etwas zu lernen? –, aber mit einer wilden Leidenschaft, die sich immer weiter steigerte, je später es wurde und je mehr Biergläser sich zu ihren Füßen aufreihten. John sprang wild zum Beat hin und her. Paul schlenkerte mit seiner Gitarre herum, riss den Hals des Instruments hoch und herunter, und selbst Stu tanzte etwas unbehaglich mit seinem Bass herum, mit unergründlichem Gesichtsausdruck, während sich die Scheinwerfer auf der dunklen Sonnenbrille spiegelten, die er immer trug. Der Rhythmus ließ sie immer unbeherrschter tanzen, und je wilder sie herumsprangen, desto lauter wurden sie, und desto schneller wurde auch der Beat.
Als sich die Nachbarn über den Lärm im Indra beschwerten, beschloss Koschmider, dort lieber wieder die ruhigeren Stripperinnen arbeiten zu lassen, während er die Beatles nun ebenfalls im Kaiserkeller auftreten ließ, im Wechsel mit Derry And The Seniors, sodass die Bands von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang ein Set an das andere reihten. Unter diesen Umständen – vor einem besseren Publikum, auf einer größeren Bühne und in direkter, wenn auch freundlicher Konkurrenz mit einer anderen Band aus Liverpool – drehten die Beatles noch mehr auf. Dazu trug auch die aufmunternde Wirkung der Diätpillen bei, die gerade in der Kombination mit ein paar Bier eine erstaunliche Wirkung entfalteten. Die Beatles verwandelten die Bühne des Kaiserkellers in einen neonbeleuchteten Hexenkessel. Dabei schluckten sie die Pillen nicht alle mit derselben Begeisterung wie John (der stets vorsichtige Paul nahm sie zu Anfang fast gar nicht), aber sie alle tranken literweise Bier, und die kombinierte Wirkung der verschiedenen Stimulanzien katapultierte sie zusammen mit der wilden Energie der nächtlichen Sessions in eine völlig neue Umlaufbahn.
Sie bewegten sich mit einer solchen Geschwindigkeit und drehten sich so schnell durch das ihnen fremde Land, dass die fünf Jungs beinahe zu einem einzigen Wesen verschmolzen. Sie spielten die ganze Nacht über auf der Bühne, tranken und bedröhnten sich bis zum Morgengrauen, dann aßen sie zusammen, tranken (noch mehr), sprachen dieselben Frauen an und vergnügten sich mit ihnen, oft sogar zur selben Zeit und im selben Raum. Sie zogen sich gleich an, hatten den gleichen Gang, sprachen im gleichen übertriebenen Liverpooler Akzent. Wenn ein Blick auf die Uhr ihnen sagte, dass es bald wieder Zeit wurde, auf die Bühne zu gehen, hängten sie sich ihre Instrumente um, zählten zusammen vor und legten gnadenlos los. Paul kreischte „Long Tall Sally“ und „Lucille“, bis seine Stimmbänder den Dienst versagten, John legte mit „Johnny B. Goode“ und „Rock ’n’ Roll Music“ nach. Sie spielten „Your Feet’s Too Big“, „Memphis“, „That’s All Right, Mama“. Georges Gitarren-Soli erklommen neue Höhen, und Pete drosch kraftvoll auf sein Schlagzeug ein. Die Nächte auf der Bühne zogen sich in die Länge, und die Musiker reagierten darauf, indem sie ihr Repertoire mit allen möglichen Songs auspolsterten, die sie je gehört hatten: obskure R&B-Titel oder die B-Seiten amerikanischer Singles, die sie in Liverpool gekauft hatten. Paul erinnerte sich an die Shownummern, die Jim so gerne hörte, und sie alle kannten irgendwelche Cowboylieder aus dem Pfadfinderlager. Alles, was man in einen pumpenden Viervierteltakt zwingen konnte, wurde, wenn nötig, um Soli und erfundene Strophen erweitert, bis die Songs dreißig Minuten dauerten, eine Dreiviertelstunde oder sogar eine Stunde – oder, wenn es sein musste, die ganze Nacht.
Wenn Derry And The Seniors nach ihren Sets die Bühne räumten und Saxophonist Howie Casey sich ein wenig ausruhte, dann sah er den Kollegen gelegentlich von der Bar aus zu und war beeindruckt. „In Liverpool hatten wir auf sie herabgesehen, aber sie hatten offensichtlich ziemlich viel geübt. Wir sahen jedenfalls einen verdammt großen Unterschied“74, sagte er. Casey war ein erfahrener Musiker, der in einer britischen Militärkapelle gespielt hatte, bevor er aus der Armee ausschied und ins Profilager wechselte. Ihm fiel besonders auf, wie stark der linkshändige Gitarrist die Band musikalisch vorantrieb. „Man merkt immer, wer in einer Band die kreative Kraft ist, und Paul hatte ganz offensichtlich diese Energie. Er war so gut darin, sich Akkorde zu erarbeiten und Songs zu erschließen. Und vom Gesang her war er hervorragend. Ich wusste, dass John in gewisser Hinsicht der Anführer war, aber musikalisch gab immer Paul den Ton an.“
Nach den Konzerten ließ Paul die Nacht oft zusammen mit dem Gitarristen der Seniors, Brian Griffiths, ausklingen, unterhielt sich über Musik und arbeitete neue Akkorde für die Songs aus, die er ins Programm nehmen wollte. Griffiths, der vom musikalischen Standard der Beatles ohnehin bereits sehr beeindruckt war, erkannte dabei, wie breit gefächert Pauls Geschmack war, der von den härtesten Rocksongs bis zu Jazz- und Shownummern reichte. „Er konnte viel mehr spielen als die anderen, kannte auch Gershwin und solche Sachen“75, sagt Griffiths. „Er hatte ein gutes Ohr für Akkordfolgen und wusste über verminderte Akkorde und so Bescheid. Damals fragte ich mich, wieso er so was nicht auch auf der Bühne zeigte. Aber sie waren ja nun mal eine Rockband.“
Das wurde Griffiths vor allem eines Morgens klar, nachdem sie das Kaiserkeller-Publikum eine lange Nacht hindurch mit abwechselnden Sets unterhalten hatten. Er war mit John zusammen im Morgengrauen frühstücken gegangen, und als sie ungefähr eine Stunde später zum Kaiserkeller zurückkehrten, hörten sie, dass Paul allein am Klavier saß und sich Elvis Presleys melodramatische Coverversion von „It’s Now Or Never“ erarbeitete. Er sang ins Bühnenmikrofon, und seine Version von Elvis’ theatralischer Darbietung hallte durch das leere, halbdunkle Lokal. John blieb mit Griffiths zusammen einen Augenblick in der Tür stehen, dann zog er eine Grimasse und stieß seinem Musikerkollegen den Ellenbogen in die Rippen. „Ich hasse diesen Scheiß!“, zischte er. „Der Typ versucht, auf Elvis zu machen. Aber das ist kein Rock ’n’ Roll, nicht wahr?“
Griffiths verstand, was John meinte. Aber er war trotzdem ziemlich beeindruckt von Pauls Vortrag. („Ich dachte nur … was hat der Typ für eine Wahnsinnsstimme!“). Genau, wie es ihn immer wieder faszinierte, wie professionell sein Musikerkollege arbeitete. Selbst im hysterischen, betrunkenen Durcheinander der Clubszene auf der Reeperbahn gab sich Paul alle Mühe, alles korrekt zu machen. „Wenn er einen Song auf der Bühne brachte, dann sollte der richtig klingen. Er arbeitete daran. Ich habe nie erlebt, dass er ins Trudeln kam oder sich verspielte, er kam immer wieder auf den richtigen Kurs. Und das lag daran, dass er probte und vorbereitet war.“
John fehlte die Geduld für einen derartigen Perfektionismus. Aber er war dennoch ein enorm druckvoller Rhythmusgitarrist und ein faszinierender Sänger, der selbst den dünnsten Rockhits neues Leben einhauchen konnte. Oft war es gerade die Spannung zwischen den beiden Frontmännern, die dafür sorgte, dass die Beatles sich von den zumeist eher einfallslosen Coverbands in den Reeperbahnclubs abhoben. Die Auftritte begannen häufig so, dass Paul die Zuschauer in seinem Schuldeutsch willkommen hieß, sich bedankte, dass sie gekommen waren, und den ersten Song ansagte. An manchen Abenden versuchte er sogar, dem ruppigen Publikum ein paar Brocken Englisch beizubringen. Aber im Laufe des Abends, wenn die Stimmung allmählich zum Kochen kam, übernahm John die Ansagen und überschüttete die zunehmend verwegeneren Gestalten vor der Bühne mit absichtlich unverständlichem Geplapper. Wenn die Pillen und der Alkohol richtig zu wirken begannen, rastete er völlig aus. „Klatscht mal, ihr Scheiß-Nazis!“, brüllte er, und die britischen Seeleute im Publikum grölten begeistert. Die Deutschen taten das ebenfalls, weil sie ihn entweder nicht verstanden und einfach davon ausgingen, dass er irgendetwas Aufrüttelndes sagte, oder weil sie seinen Irrsinn klasse fanden.
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