Über ihm thronte Neal Smith, unser extravaganter Drummer, ein goldener Gott. Nein, „Gold“ reicht hier nicht zur Beschreibung – er war der Platin-Gott, der uns unterhielt und dazu antrieb, ein immer noch höheres und explosiveres Level zu erreichen. Zwischen mir und Neal bestand eine enge Verbindung, und das nicht nur, weil ich mit seiner Schwester schlief. Sein Schlagzeug und mein Bass waren zu einer untrennbaren und mysteriösen Einheit verschmolzen, die weit über das hinausging, was man landläufig als Rhythmus-Sektion beschreibt. Meine Basslinien fütterten den minimalistischen und ursprünglichen Drumbeat. Wir schlossen uns eng zusammen und erzeugten dabei mehr Donner als eine Bomberflotte am Himmel.
Und dann war da Alice, der Comedian und Philosoph, der fürsorgliche Predigersohn, der auf der Bühne in seine Rolle als Verkörperung des Bösen schlüpfte. An diesem Abend in Brasilien hatte er gute Laune, obwohl er ängstlicher als sonst erschien. Vielleicht lag es an der unheilvollen Stimmung? Er war nicht sonderlich besoffen, doch man roch eine Bier-Fahne. Das Gesicht war vom dick aufgetragenen Augen-Make-up verdunkelt. Alice trug sein Leder-Outfit sowie den gefärbten Hodenschutz und wirbelte mit dem Schwert durch die Luft, scheinbar zu allem bereit.
Die brüderliche Harmonie zwischen Alice und mir hatte erst kürzlich einen Knacks bekommen. Allerdings zeigte sich die Anspannung innerhalb der Band niemals auf der Bühne. Waren wir erst mal draußen, stimmte alles. Ein Jahrzehnt lang liebten wir die Musik über alles, und sie war nun unser letzter Zufluchtsort geworden.
In São Paulo spielten wir ohne den großen Bühnenaufbau. Alles beschränkte sich auf die Musiker und die Musik. Wie in alten Zeiten waren wir wieder eine Rockband, am zufriedensten in einer rauen, aggressiven und zähnefletschenden Stimmung.
Wir rannten auf die Bühne und kreierten einen infernalischen Klang-Orkan. Natürlich hätte niemand ahnen können, dass es die letzte Show sein würde. Doch uns überkam das leidenschaftliche Fieber eines ehemals verliebten Pärchens, das gemeinsam ausgeht, es noch einmal versucht, sich dann einen Abschiedskuss gibt, wobei jeder mit zitternder Stimme haucht: „Bitte vergiss mich jetzt nicht.“
Hey, ich kenne diese Typen seit der Highschool. Wir haben seit der Zeit als schlaksige Teenager aufs Engste zusammengelebt – Wange an Unterkiefer, Unterkiefer an Achselhöhle –, in billigen Absteigen und geräumigen Häusern, kannten all unsere verborgenen und dunklen Geheimnisse. Einige Jahre vor dem Konzert, wir teilten uns damals ein Farmhaus in Michigan, bemerkte ich ein ständig wiederkehrendes Phänomen. Wenn einer von uns in ein leeres Zimmer ging und sich auf die Couch setzte, kam schon bald ein weiterer, dann der nächste, gefolgt vom übernächsten. Das glich einer organischen Maschine, die nur läuft, wenn alle Teile im Einklang miteinander sind.
Solch eine Nähe kann natürlich auch zu viel werden. Als wir in São Paulo aufschlugen, war unsere 24-stündige Party von Verantwortlichkeiten gegenüber einer viel größeren Maschine belastet.
Es hatte sich alles zu einer nervenzehrenden Halluzination entwickelt. Natürlich gab es zahlreiche Freuden und Annehmlichkeiten. Das will ich gar nicht abstreiten. Zum Gefühl, auf einer Bühne zu stehen, zu diesem Mix aus euphorischer Liebe und fordernder Ekstase gibt es nichts Vergleichbares an Lebenskraft. Zu deinen Füßen landen Feuerwerkskörper, Liebeskettchen und überschäumende Bierdosen.
Die Flut kommt auf dich zu und zieht dich auf den Ozean hinaus.
Fünf junge Kerle aus der Highschool, die auf schnelle Autos standen, sprangen in den superheißen Schlitten Rock’n’Roll und fielen wieder raus. Ich werde unseren Traum mit Ihnen teilen. Doch wie bei jedem Traum fällt die Logik in sich zusammen – ähnlich einem Marshall-Verstärker, der in die Luft geht.
Die Alice Cooper Group mochte harte Arbeit. Wir schrieben ständig Songs, brachten Album nach Album auf den Markt und dachten uns Bühnenshows aus.
Während einer Tournee gingen wir in eine Arena und verwandelten den nachmittäglichen Soundcheck in eine zweistündige Probe. Wir standen darauf, so verdammt gut zu sein, mochten es, das Publikum beim totalen Ausklinken zu beobachten. Fünf Musiker wurden zu einer Einheit zusammengeschweißt und waren so stark wie ein waschechter Hafenarbeiter.
Michael Bruce bemerkte mal, dass die frühe Band wie meine eigene Band wirkte. Nett von ihm, das zu erwähnen, doch es ist wichtig, dass Sie uns als fünf Musiker betrachten. Der Mann, den man nun als Alice Cooper kennt, kann nur im Kontext des ersten und wichtigsten Konzepts gebührend wahrgenommen werden: als Mitglied einer Gruppe namens Alice Cooper. Er hat sich seinen heutigen Status als berühmter Solokünstler völlig verdient, doch auch wir als Band erreichten viel.
Natürlich nannte man ihn nicht immer schon Alice. Als ich ihm damals in Phoenix begegnete, hieß er Vince, eine Kurzform des vollständigen Namens Vincent Damon Furnier. Während ich die Geschichte der Gruppe erzähle, werde ich ihn im ersten Drittel des Buches Vince nennen.
Ja, er war Vince und ist es manchmal immer noch. Während eines Treffens, das kürzlich stattgefunden hat, nannte ich ihn automatisch bei seinem alten Namen. Er kam gerade mit vor Aufregung gerötetem Kopf von der Bühne und stank nach Schweiß. Doch innerhalb von nur wenigen Sekunden – nachdem man sich hingesetzt hatte – waren wir dann wieder die beiden jungen Kerle aus Arizona, die gemütlich in einem alten Ford Falcon hockten, eine Tüte Tacos in der Hand, und sich wünschten, endlich bei einer der unerreichbaren Frauen zu landen.
Wenn ich ihn Vince nenne, denke ich an den Jungen, der an meinem Küchentisch saß oder nur mit einem um die Hüften geschlungenen Handtuch im Haus herumspazierte.
Manchmal glich unser Leben dem Warnhinweis der Autoritäten: Wenn Teenager miteinander abhängen, können daraus schnell große Schwierigkeiten entstehen! Unsere Geschichte beginnt mit einer einfachen Tatsache: Vince und ich hingen oft zusammen ab – und dann geschah immer so Einiges …
„Wenn aus verrückten Menschen Massen von verrückten Menschen werden, sind wir berühmt.“
– Vince
Vince’ Stuhl rutschte mit einem quietschenden Geräusch über den mit Farbe verdreckten Linoleum-Boden. Wir saßen im Kunstkurs, und überall schossen die Köpfe in die Höhe, ähnlich wie bei einer aufgeschreckten Antilopenherde. Lachen war strengstens untersagt, und so musste man es mit Mühe unterdrücken. Vince schaute hoch, um zu sehen, ob es Mrs. Sloan bemerkt hatte. Er blickte direkt in ihre funkelnden Augen, die ihn über die Lesebrille hinweg anstarrten, ihn regelrecht ins Visier nahmen und dabei signalisierten, dass sie hier das Kommando führte.
Vince eilte der Ruf voraus, seinen Kopf durch Scherze und Witzeleien aus der Schlinge zu ziehen. Und nun wartete die Klasse gespannt. Mrs. Sloan war attraktiv und allgemein beliebt, doch auch für ihre unnachgiebige Haltung bekannt. Und nun wurde sie herausgefordert.
Vince’ Augen vergrößerten sich bei der Imitation des Fernsehstars Barney Fife. Er hauchte ein stimmloses „Sorry“. Im Moment ähnelte er einem Schauspieler im grellen Scheinwerferlicht, der sich mit Leichtigkeit in einen Inspektor Clouseau, Stan Laurel oder einen weiteren Charakter seines Repertoires aus gut einem Dutzend Darstellern verwandeln konnte. Aber er spielte den ängstlichen Gesetzeshüter, hob den Stuhl unmerklich an und rutschte über den Boden zu mir herüber. In einer entfernten Ecke des Raums hörten wir jemand losprusten. Es war Maurice Kluff, ein Junge, der ständig knallig orangefarbene Socken trug. Mrs. Sloan würgte ihn mit ihrem tödlichen Starren augenblicklich ab.
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