Keiths Eltern waren schon lange zusammen, bevor sie heirateten. „Ich glaube, sie lernten einander 1934 kennen, vielleicht sogar 1933, und 1936 haben sie geheiratet. 1963 trennten sie sich. Das ist, was mich anbelangt, der sonderbare Teil der Geschichte. Sie haben sich gleich getrennt, nachdem ich von zu Hause ausgezogen war, faktisch innerhalb von Monaten. Ich denke, das liegt hauptsächlich daran, dass mein alter Herr im Zusammenleben mit einer Frau unvorstellbar langweilig sein kann. Er arbeitet nach wie vor in einer Firma der Elektronikbranche, als Vorarbeiter oder so. Er hat sich dort hochgearbeitet, seit seinem einundzwanzigsten Lebensjahr. Immer sehr sittenstreng, prüde – niemals betrunken, sehr kontrolliert, sehr unlocker. Ich muss schon sagen, dass er sehr unlocker war. Das Seltsame ist, dass ich, weil ich ihn noch immer mag, gewisse Dinge an ihm ziemlich liebenswert finde. Aber der Bastard will nichts mehr mit mir zu tun haben, seit er sich von meiner Mutter getrennt hat – ich glaube, weil ich zu meiner Mutter nach der Trennung noch immer ein gutes Verhältnis hatte. Da hat er sofort zugemacht. Ich hab’ ihm ein paarmal geschrieben. Zum Beispiel, als ich eingebuchtet wurde, weil ich ihm die Angelegenheit erklären wollte; ich wollte nicht, dass er das alles aus den Zeitungen erfährt. Aber ich habe keine Antwort bekommen, was mich ziemlich frustriert hat. Hab’ seit 1963 nichts von ihm gehört. Sieben Jahre.“
„Standest du ihm als Kind sehr nahe?“
„Nein, es war nicht möglich, ihm besonders nahe zu kommen; er konnte sich nicht öffnen. Aber er war immer gut zu mir.“
„War er streng, als du älter wurdest, beispielsweise wenn du ausgehen wolltest?“
„Er versuchte es. Aber ich glaube, er gab es dann auf – wegen meiner Mutter, die den Hang hatte, mir nachzugeben, besonders als ich älter wurde. Und … ich glaube, er hat mich einfach aufgegeben. Ich habe ihn unglaublich enttäuscht.“
„Du hast dich als Dupree entpuppt statt als Richards …“
„Genau. Ich bin wirklich nicht einmal annähernd so geworden, wie er es gewollt hätte.“
„Wo lebt er?“
„Soviel ich weiß, immer noch dort, wo wir alle gelebt haben, in diesem furchtbaren, gottverdammten Gemeindewohnhaus in Dartford. Das ist achtzehn Meilen Richtung Osten am Stadtrand von London, gleich außerhalb der Vororte, wo die ländliche Gegend beginnt. Er hat es wirklich nicht verstanden, auch nur irgendwas zu riskieren. Dieser gottverdammte, seelenzerfressende Gemeindebau. Eine Mischung aus schrecklichen Wohnblocks und fürchterlichen neuen Straßen voller Doppelhäuser, alle in einer Reihe, alle neu, ein echter Betondschungel, ein wirklich geschmackloser Ort. Und weil er so rein gar nichts riskieren wollte, unternahm er nicht einmal den Versuch, uns dort rauszukriegen, was meiner Mutter, soweit es ihn anging, schließlich den Rest gegeben hat. Ich werde ihn eines Tages besuchen gehen müssen, und sei es nur, weil ich nicht so verbohrt sein werde wie er. Eines Tages werde ich ihn mir einfach schnappen und versuchen, zu ihm durchzudringen, ob es ihm passt oder nicht.“
„Er hat nicht wieder geheiratet?“
„Nicht dass ich wüsste. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass er sich genug zusammenreißt, um eine andere Frau zu finden. Er wird eher verbittert bleiben und sich selbst bemitleiden. Es ist eine Schande. Was mich anbelangt, hätte ich ihn gerne hier. Er ist ein Gärtner, er könnte sich um das Anwesen kümmern und er würde es gerne tun, wenn er wirklich ehrlich zu sich selbst wäre. Und ich würd’ wirklich drauf steh’n, wenn er einfach hier leben und sich um alles kümmern würde.“ (Zehn Jahre später gliederte Keith seinen Vater tatsächlich wieder der Familie ein, allerdings ohne vorgetäuschtes Gefühl von beiden Seiten. Als Bert Richards 1983 in Keiths Haus auf Jamaika ein Telefonat entgegennahm, sagte der anrufende Freund: „Sie müssen sehr stolz auf ihn sein.“ – „Na ja …“, meinte sein Vater, der sich nicht festlegen wollte.)
„Wie war deine Einstellung zur Schule?“
„Ich wollte verdammt noch mal nichts wie raus. Je älter ich wurde, desto mehr wollte ich weg. Ich wusste einfach, dass ich es nicht schaffen würde. In der Primary School hatte man nicht allzuviel zu tun, aber als ich später diese verdammte Technical School in Dartford besuchte, war die Gehirnwäsche ganz offensichtlich. Vom fünften bis zum siebten Lebensjahr ging ich in die Primary School, die erste Stufe der Grundschule, die zumindest damals in England ‚Kinderschule‘ genannt wurde. Als ich gleich nach dem Krieg eingeschult wurde, lehrten sie die grundlegenden Dinge, aber hauptsächlich war es eine Indoktrination, wer zu wem ja zu sagen hatte und wie man sich in die Klasse einfügen sollte. Darauf hat man sich also für die nächsten zehn Jahre eingelassen. Mit sieben geht man dann in die Junior School. Dort, in der Wentworthschule, habe ich Mick kennengelernt. Er wohnte zufällig in der Nähe und wir haben einander oft in der Nachbarschaft gesehen … auf unseren Dreirädern. In der Junior School werden die Kids jedes Jahr in drei Gruppen eingestuft – schnelle, durchschnittliche und langsame. Mit elf machst du eine Prüfung, die ‚Elf-Plus‘ heißt und ein großes Trauma darstellt, weil sie tatsächlich den Rest deines Lebens bestimmt, soweit es das System betrifft. Heutzutage ist wahrscheinlich mehr Psychologie im Spiel, aber damals wollten sie nur sehen, wieviel man gelernt hatte und ob man es niederschreiben konnte. Das entschied dann darüber, ob man in die Grammar School ging, wo man eine Art semiklassischer Ausbildung für die breite Masse bekommt – oder in eine sogenannte Technical School, in die es mich verschlug und die eigentlich für Kids ist, die normalerweise ziemlich intelligent sind, sich aber mit dem Akzeptieren von Disziplin etwas schwertun. Die Schule für jene Kinder, die kaum Chancen haben, etwas anderes zu tun, als sich als Arbeiter oder Hilfsarbeiter ihr Brot zu verdienen, nennt man Secondary Modern. Für diejenigen, die das Geld dafür hatten, gab es noch jede Menge privater Internate, aber das war das staatliche Ausbildungssystem. Nach meinem elften Lebensjahr verlor ich den Kontakt zu Mick, da er in eine Grammar School ging und ich die Technical School besuchte. Ich verlor ihn aus den Augen – für ungefähr sechs Jahre, was mir lange vorkam.“ Keith Richards, der jüngste der originalen Rolling Stones, wurde am 18. Dezember 1943 geboren. Michael Philip Jagger erblickte im selben Jahr und in derselben Stadt, Dartford, am 26. Juli das Licht der Welt. Mit vier Jahren war Micks Mutter von Australien, wo sechs Generationen ihrer Familie gelebt hatten, nach Dartford gekommen. „Die Frauen in meiner Familie sind nach Australien gegangen, um von den Männern wegzukommen“, sagte sie. Sie heiratete Joseph Jagger, einen Turnlehrer, der aus einer streng antialkoholisch eingestellten nordenglischen Baptistenfamilie nach Dartford gekommen war. Von frühester Jugend an war ihr Sohn Michael an Leichtathletik und am Geldverdienen interessiert.
„Als ich zwölf Jahre alt war“, sagte Mick, „habe ich auf einem amerikanischen Armeestützpunkt in der Nähe von Dartford gearbeitet und anderen Kindern Turnunterricht gegeben – weil ich gut darin war. Ich musste ihre Spiele lernen, also habe ich Football und Baseball gelernt, all die amerikanischen Spiele. Es gab da einen schwarzen Typen namens José, einen Koch, der mir R&B-Platten vorspielte. Das war das erste Mal, dass ich schwarze Musik hörte. Es war in der Tat mein erstes Zusammentreffen mit amerikanischem Gedankengut. Sie begruben eine Flagge, ein Stück Stoff, mit allen militärischen Ehren. Ich fand das lächerlich und sagte es auch. Sie fragten: ‚Wie würdest du es empfinden, wenn wir etwas über die Queen sagen würden?‘ Ich antwortete: ‚Es wäre mir egal, ihr würdet ja nicht über mich reden. Der Queen würde es vielleicht etwas ausmachen, mir nicht.“
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