Nachdem Jimis Gitarre gestohlen worden war, war er für die Rocking Kings wertlos geworden, und mehrere Bandmitglieder legten zusammen, um ihm ein neues Instrument zu kaufen. Für neunundvierzig Dollar fünfundneunzig erstanden sie eine weiße Danelectro Silvertone bei Sears Roebuck, zu der auch ein passender Verstärker gehörte. Wie er es auch schon mit seiner alten Gitarre gehalten hatte, ließ er die neue gewöhnlich bei Freunden zu Hause stehen, um sie dem Zorn seines Vaters zu entziehen. Jimi malte die Gitarre rot an und schrieb den Namen „Betty Jean“ in fünf Zentimeter großen Buchstaben vorn drauf. Seine Tante Delores bemerkte, dass er die Gitarre auch nach seiner Mutter „Lucille“ hätte taufen können, hätte nicht B. B. King den Namen bereits verwendet.
B. B. King blieb ein starker Einfluss, und Songs wie „Every Day I Have The Blues“ und „Driving Wheel“ waren beliebte Coverversionen, welche die Band spielte. Ein Set der Rocking Kings enthielt zum Beispiel „C. C. Rider“ in der ursprünglichen R&B-Version, wie sie Chuck Willis gespielt hatte, Hank Ballards Version von „The Twist“, die langsamer war als der Hit von Chubby Checker, außerdem beliebte Nummern wie „Rockin’ Robin“ oder „Do You Want To Dance?“, Coverversionen von Hits der Coasters, „Blueberry Hill“ und beinahe immer Songs von Duane Eddy und Chuck Berry. Die Band spielte auch eigene Versionen von „David’s Mood“ und „Louie, Louie“. „Wir haben Blues, Jazz und Rock durcheinander gespielt“, erinnert sich Exkano. „Wir spielten alles, damit die Leute weitertanzten.“ Die Songs wurden von Exkanos ungewöhnlichem Schlagzeugsound vorangetrieben, den er als „Kitschbeat“ bezeichnete. „Das war eher so ein schlurfender Shuffle“, erklärte Exkano, „was es leichter machte, dazu zu tanzen. Der Sound war definitiv schwarz, aber das Publikum bei unseren Shows war gemischt, und alle kamen.“
Im Juni 1960 zogen Al und Jimi wieder einmal um, diesmal in ein kleineres Haus im East Yesler Way 26026, nur ein paar Straßenecken von der Garfield High entfernt. Jimi schloss sein zweites Jahr an der Highschool mit einer zwei in Kunst und einer Vier im Maschinenschreiben ab. Sechsen kassierte er in Theater, Geschichte und Sport, die Fächer Literatur, Werken und Spanisch hatte er vorsorglich bereits abgegeben. „Er wollte einfach nicht lernen“, erinnert sich Terry Johnson. „Das führte natürlich dazu, dass er durchfiel, was seine Selbstachtung wiederum erneut ankratzte.“
Als im darauf folgenden September die Schule wieder losging, besuchte Jimi zunächst einen Monat lang den Unterricht, doch schon wenig später zeichnete sich ab, dass er den Abschluss niemals schaffen würde. Trotz mehrerer Warnungen von Schulbeamten, er würde der Schule verwiesen, sollte er weiterhin den Unterricht schwänzen, erschien Jimi nicht und wurde gegen Ende Oktober 1960 offiziell entlassen. In seiner Schulakte wird als Grund für seinen Abgang eine „Arbeitsverpflichtung“ angegeben, jedoch hatte er außer als Gitarrist bei den Rocking Kings keinen anderen Job. „Er war so weit davon entfernt, den Abschluss zu schaffen, dass es keine Frage von ein paar schlechten Noten oder versäumten Unterrichtsstunden mehr war“, erinnert sich der Direktor Frank Hanawalt. „Er hatte so viel versäumt, dass er das unmöglich noch aufholen konnte. Damals gab es die Vorschrift, dass wir Schüler, die den Unterricht nicht regelmäßig besuchten, nicht weiter an unserer Schule dulden durften.“ In jenem Jahr gingen zirka zehn Prozent der Schüler von der Garfield ab.
Als Jimi Jahre später berühmt war und gegenüber gutgläubigen Reportern seine Vergangenheit mystisch verklärte, erzählte er das Märchen, er sei von der Schule geflogen, weil ihn rassistische Lehrer beim Händchenhalten mit seiner weißen Freundin in der Bibliothek erwischt hätten. Die Geschichte war frei erfunden: Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen waren an der Schule nicht beispiellos, obwohl Jimi zu dem Zeitpunkt keine weiße Freundin hatte, mit der er hätte Händchen halten können. Niemand, der in jener Zeit die Garfield besuchte, erinnert sich an eine andere Highschoolfreundin außer Betty Jean. Jimi hatte sich mit Mary Willix angefreundet, einer weißen Klassenkameradin, die eine enge Freundin wurde – mit ihr unterhielt er sich über Ufos, das Unbewusste und Wiedergeburt. Jimis Freundschaft zu Willix war allerdings rein platonisch, doch war sie eines der wenigen weißen Mädchen, mit denen er in seiner Jugend näher zu tun hatte. „Kaum eine der anderen weißen Schülerinnen kannte Jimi überhaupt“, bemerkt Willix. Die Freundschaft zu Willix hinterließ jedoch einen bleibenden Eindruck bei ihm, ebenso wie die vielen Freundschaften, die Jimi zu Musikern aller möglicher Hautfarben an der Garfield und im Central District in jenem Herbst unterhielt. „Der Multikulturalismus, den Jimi an der Garfield erlebte, sollte ihn den Rest seines Lebens begleiten“, erinnert sich Willix. „Das war wirklich ein ganz besonderer Ort, und alle, die dort waren, wurden nachhaltig davon geprägt.“ Diese Freundschaften, von denen sich viele um die gemeinsame Liebe zur Musik entwickelten, wirkten sich dauerhafter auf Jimi aus als alles, was er im Unterricht gelernt hatte.
Das fantastische Märchen, er sei wegen einer imaginären weißen Freundin aus der Bibliothek geworfen worden, brachte Jimis Freunde und Klassenkameraden allein schon wegen der Vorstellung, Jimi habe in der Bibliothek gesessen, zum Schmunzeln. Die Wahrheit ist, dass Jimi Hendrix am 31. Oktober 1960, zu Halloween, im Alter von siebzehn Jahren wegen zu schlechter Noten von der Schule abgehen musste.
Kapitel sieben
Spanish Castle Magic
Seattle, Washington
November 1960 bis Mai 1961
„Das ‚Spanish Castle‘ war zur Zeit der Rock’n’Roll-Shows das Walhalla im Nordwesten. Wenn man es da geschafft hatte, hatte man es geschafft.“
— DJ Pat O’Day aus Seattle
Jimi Hendrix brauchte, anders als er es 1968 in seinem Song „Spanish Castle Magic“ schrieb, keinen „halben Tag“, um zum Spanish Castle, dem legendären Tanzclub, zu gelangen. Vom Central District aus dauerte die Autofahrt dorthin lediglich eine Stunde. Die Fahrt zu dem Club in Kent, Washington, war jedoch karriereentscheidend, denn das Castle war die wichtigste Tanzhalle im Nordwesten, und jeder Musiker aus der Gegend träumte davon, dort zu spielen. Hendrix besuchte den Club das erste Mal 1959, um die Fabulous Wailers zu sehen, die damals beliebteste Band im Umkreis, und er kehrte, so oft er konnte, zurück. Das Castle war 1931 zum Tanzsaal umgebaut worden und groß genug für bis zu zweitausend Gäste. Ausstaffiert mit schicken Neonlampen und einer Stuckfassade mit kleinen Türmchen, sicherte sich der Veranstaltungsort seinen Platz in der Geschichte des Nordwestens, als die Fabulous Wailers 1961 ihr Livealbum At The Castle herausbrachten. DJ Pat O’Day buchte die meisten großen Shows dort. „Das Spanish Castle war zur Zeit der Rock’n’Roll-Shows das Walhalla im Nordwesten“, sagt er. „Das war der angesagteste Laden, und jede Band aus der Gegend wollte auf dieser Bühne spielen.“
Das erste Mal stand Jimi auf der Bühne des Castle, als die Rocking Kings dort Ende 1960 im Vorprogramm einer anderen Band spielten. Der Auftritt selbst war nicht besonders bemerkenswert, da die Band nervös war, aber Ende 1960 bekamen die Rocking Kings schon einigermaßen interessante Engagements. Sie hatten auf dem Seafair-Festival in Seattle gespielt und den zweiten Platz bei einem Amateurwettbewerb belegt, dem „All State Battle of the Bands“.
Obwohl das Publikum im Castle größtenteils weiß war, war es ein gemischter Club, und viele der weißen Musiker aus der Gegend beschäftigten sich mit R & B und Jazzmusik. „Die Szene im Nordwesten war sehr stark von der afroamerikanischen Kultur beeinflusst“, erinnert sich Larry Coryell, der seine Karriere bei den Checkers begann, einer beliebten Gruppe aus dem Castle. „Die Musik im Nordwesten besaß Originalität, was vor allem daran lag, dass Seattle geografisch so isoliert war. Daher wurde der dreckige R & B der Wailers, der Frantics und der Kingsmen zu einem ganz eigenen Heimatsound.“
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