Seine schlechten Noten bescherten ihm das beschämendste Erlebnis seiner Jugend: Alle Kinder, mit denen er an der Leschi Elementary School aufgewachsen war, wechselten auf die Highschool. Er aber musste die neunte Klasse wiederholen. Er erzählte so gut wie niemandem von diesem Umstand und log, wenn er gefragt wurde, welche Highschool er besuche. Die meisten Erwachsenen in Jimis Leben erinnern sich an ihn als aufgewecktes Kind, und in der Tat scheinen seine Schulprobleme vor allem durch mangelndes Engagement und Fehlstunden verursacht.
Wenn Jimi die Schule schwänzte, drehte er, ähnlich wie ein Polizist auf Streife, seine Runden. Unweigerlich machte er Halt bei Leons Pflegeeltern, schaute bei Pernell vorbei, besuchte Jimmy Williams und klopfte bei Terry Johnson an. Er holte Carmen von der Schule ab und brachte sie nach Hause, auch wenn er selbst nicht im Unterricht erschien. Anlaufpunkte auf seinen Touren waren bald auch eine Reihe von Musikern, von denen er hoffte, Tipps für sein eigenes Gitarrenspiel zu erhalten. „Damals waren die Leute echt offen und haben einem Riffs und alles Mögliche gezeigt“, erinnert sich der Schlagzeuger Lester Exkano. „Niemand hätte es je für möglich gehalten, dass man mit Musik Geld verdienen kann, deshalb war es eher eine Frage des Stolzes, anderen die eigenen Ideen zu verraten.“ Exkano erinnert sich, dass Jimis Lieblingsgitarristen damals B. B. King und Chuck Berry waren.
Einige Musikerfamilien waren von besonderer Bedeutung, nicht nur für Jimi, sondern für viele aufstrebende Musiker im Viertel. Die Familie Lewis – mit dem Keyboarder Dave Lewis als Sohn und dem Vater Dave Lewis senior – war für viele ein wichtiger Einfluss. „Sie hatten einen Keller mit einem Klavier, und die Tür stand immer offen“, erinnert sich Jimmy Ogilvy. „Dave senior spielte Gitarre, aber vor allem hat er den Leuten Mut gemacht. Er hatte Ray Charles und Quincy Jones ein paar Licks gezeigt.“ Die Lewis’ schufen eine Atmosphäre, in der man Rückhalt fand, und den Kindern wurde vermittelt, dass Kreativität etwas Positives sei. Die Familie Holden mit den Söhnen Ron und Dave und dem Familienoberhaupt Oscar hielt auf ähnliche Weise Hof. In vielerlei Hinsicht erhielt Jimi in diesen inoffiziellen Schulen – den Schulen des Rhythm & Blues, wie er in den Kellern und Hinterhöfen der Innenstadt von Seattle gespielt wurde – seine höhere Schulbildung.
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Im Herbst wurde Jimi sechzehn, und die Musik nahm immer mehr Raum in seinem Leben ein. Das Spiel auf der akustischen Gitarre beherrschte er inzwischen einigermaßen, am sehnlichsten wünschte er sich nun jedoch eine elektrische. „Er war fasziniert von Elektrik“, erinnert sich Leon. „Er nahm ein Radio auseinander und versuchte, es zum Verstärker für seine Gitarre umzubauen.“ Ernestine Benson, die Jimis wachsendes Interesse an der Musik verfolgte, drängte Al, dem Jungen ein ordentliches Instrument zu kaufen.
Die Schule blieb weiterhin ein Problem. Obwohl er die Klasse wiederholte, in der er im vorangegangenen Jahr durchgefallen war, hatte Jimi mit dem Stoff zu kämpfen. Als er und Al im Dezember wieder einmal umzogen und bei Grace und Frank Hatcher wohnten, bedeutete das auch einen weiteren Schulwechsel an die Washington Junior High. Nach Ende des ersten Halbjahrs war Jimi erneut in Mathematik, Englisch und technischem Zeichnen durchgefallen. Ein zweites Mal konnte er nicht sitzen bleiben, deshalb stimmte die Schulbehörde seiner Versetzung an die Highschool im Herbst in der Hoffnung zu, die neue Umgebung würde zur Besserung seiner Noten beitragen.
Vater und Sohn lebten nur eine kurze Zeit bei den Hatchers, die den Ärger mit Al rasch leid waren. „Al war so unzuverlässig: Er trank, spielte und kam erst in den frühen Morgenstunden nach Hause“, erinnert sich Frank Hatcher. Im April 1959 zogen sie wieder um, diesmal in eine Wohnung in First Hill. Das Gebäude war derart rattenverseucht, dass Al sich nicht einmal die Mühe machte, den Gasherd anzuwerfen oder die Küche zu benutzen. Prostituierte gingen unten auf der Straße ihrer Tätigkeit nach. Die Wohnung lag gegenüber einer Jugendstrafanstalt, die Jimi vor Augen gehalten haben mag, wohin sein Leben führen könnte.
Trotz der Verschlechterung seiner Lebensumstände wurde Jimi in dieser Wohnung die größte Freude seiner gesamten Kindheit und Jugend zuteil, als er seine erste E-Gitarre bekam. Al hatte unter den ständigen Nörgeleien von Ernestine Benson – „Kauf dem Jungen endlich eine Gitarre“ – schließlich nachgegeben und bei Myer’s Music ein Instrument auf Raten gekauft. Gleichzeitig hatte er ein Saxofon erworben, weil er es selbst spielen wollte. Eine kurze Weile lang jammten die beiden zusammen, als jedoch die nächste Rate fällig wurde, brachte Al das Blasinstrument zurück.
Jimis Gitarre war eine weiße Supro Ozark. Sie war für Rechtshänder gebaut, und Jimi zog die Saiten sofort andersherum auf. Das bedeutete, dass die Knöpfe auf der falschen Seite waren, was ihre Handhabung erschwerte. Jimi rief sofort Carmen Goudy an und schrie in den Hörer: „Ich hab eine Gitarre!“
„Du hast doch schon eine Gitarre“, sagte sie.
„Nein, ich meine eine richtige Gitarre!“, rief er. Er flitzte rüber zu ihr nach Hause. Als sie im Meany Park spazieren gingen, hüpfte Jimi buchstäblich vor Freude auf und ab, die Gitarre in Händen. „Man darf nicht vergessen“, sagte Carmen, „dass wir als Kinder so arm waren, dass wir nie was zu Weihnachten bekamen. Das war wie fünfmal Weihnachten auf einmal. Man musste sich einfach mit ihm freuen. Ich glaube, das war der glücklichste Tag seines Lebens.“
Im Park schrammelte Jimi ein bisschen auf der Gitarre herum und probierte ein paar der Licks aus, die er auf der akustischen gelernt hatte. Die Bewegungsabläufe hatte er durch die unzähligen Stunden, in denen er Luftgitarre gespielt hatte, längst einstudiert, weshalb er wie ein echter Gitarrist aussah, auch wenn seine Fähigkeiten damals noch bescheiden waren. „Ich bin dein erster Fan“, verkündete Carmen.
„Glaubst du wirklich, dass ich mal Fans haben werde?“, fragte Jimi. „Mit Sicherheit“, antwortete Carmen.
Ihre Beziehung war inzwischen so weit gediehen, dass sie sich küssten, obwohl beide noch an ihren Künsten feilten. Nach einem Kuss erklärte Jimi meist, um welche Sorte Kuss es sich gehandelt hatte. „Das war ein französischer, bei dem man die Zunge in den Mund des anderen steckt“, meinte er. Sie erinnert sich an seine Küsse als an die „saftigsten“. An jenem Tag im Park war Carmen jedoch frustriert, weil sich Jimi mehr für seine Gitarre als für das Küssen zu interessieren schien. In ihren Augen machte ihn dies noch attraktiver – eine Methode, die Jimi schließlich zu einer hohen Kunst weiterentwickelte.
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Die Gitarre wurde sein Leben, und sein Leben wurde seine Gitarre. Da er sein Instrument nun endlich in Händen hielt, versteifte er sich als Nächstes darauf, eine Band zu finden. Im Verlauf der folgenden Monate spielte Jimi praktisch mit jedermann im Viertel, der ein Instrument besaß. Meist handelte es sich dabei um zwangloses Jamming, meist ohne elektrische Verstärkung, da Jimi keinen Verstärker besaß. Wenn er Glück hatte, erlaubte ihm einer der älteren Musiker, sich bei ihm mit anzuschließen, und dann konnte er loslegen. Gelegentlich nutzte er auch den Verstärker in einem Jugendtreffpunkt. Auch hatte er keinen Koffer für seine Gitarre, deshalb trug er sie entweder ohne Schutzhülle oder in einer großen Papiertüte aus der Reinigung, womit er eher nach einem Hobo als nach einem gewieften Gitarristen aussah. Mit der Gitarre in der Papiertüte schien er Chuck Berrys „Johnny B. Goode“ zu verkörpern.
Zu diesem Zeitpunkt kannte Jimi lediglich ein paar Riffs und keine kompletten Songs. Carmen Goudy erinnert sich, dass der erste Song, den er von Anfang bis Ende beherrschte, „Tall Cool One“ von den Fabulous Wailers war. Die Wailers waren eine vom R & B beeinflusste Rockband aus Tacoma, Washington, die sich mit ihrer Version von „Louie, Louie“ daheim etwas Ansehen verschafft hatte.
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