Sie hob ihn auf und streichelte seine Stirn, vermutete, er habe die Milch nicht verdaut. Sein Magen verkrampfte sich, und er übergab sich. Dann wurde sein Hals schlaff, und seine Augen verdrehten sich.
Ciddy rief um Hilfe, und ihre Schwester Enid, die draußen Wäsche gewaschen hatte, lief, um Omeriah und Yaya, die Großmutter der jungen Mädchen, zu holen, die beide in der Nähe wohnten.
Ernst untersuchte Omeriah das Kind und kam zu der Überzeugung, ein böser Geist habe es während Ciddys Abwesenheit berührt. Yaya schloss sich ihm an, und Vater und Großmutter diskutierten mögliche Gegenmittel. Schließlich wurde entschieden, er werde einen Heiltrunk mischen aus Susumba Bush, Bitterkraut, Baumwollblättern, Black Joint, Babygripe, Hug-me-Close und Sweetcup, während sie ein Amulett holte, um das Kind vor weiteren Angriffen der Dämonen zu schützen. Als das getan war, wurde der Junge der Obhut von Ciddy, Enid und Tante Beatrice Wilby, der älteren Cousine, die als Ciddys Hebamme geholfen hatte, anvertraut, die es rund um die Uhr bewachen sollten. Es blieb kaum etwas zu tun, als zu warten und zu beten, dass der Schatten von ihm weichen möge.
Als sich der Abend senkte, begann der Junge freier zu atmen, und seine Hüterinnen reagierten mit Ausrufen der Erleichterung.
»Yahso! Wie er wieder lebendig wird!«, sagte Enid.
»Der Trank und das Amulett waren gut für meinen Kleinen!«, sagte Cedella, deren Augen feucht und geschwollen waren.
»Die Kraft des Allmächtigen ist nicht zu besiegen«, sagte Beatrice. »Dank und Ehre dem Allerheiligsten, dessen Name Güte ist und Liebe, für das hilflose Kind und die junge Mutter.«
Aber Omeriah, der die Rufe von der Anhöhe hörte, mochte nicht so schnell in Jubel ausbrechen oder die Bedeutsamkeit des Ereignisses abtun. Jede Krankheit, das wusste er, war eine Heimsuchung entweder vom Satan oder von dem Allmächtigen. Aus welchem Grunde, so fragte er sich, konnte ein Säugling zum Ziel eines Duppys werden? »So sicher, wie Gott das Wasser kühl gemacht hat und das Feuer heiß«, dachte er, »ist jener Junge ergriffen worden von Nookoo, Mutter Tod persönlich. Dank sei und man beuge das Haupt, denn es war nur die schnelle Vergeltung, die den Dämon vertrieben hat.«
Omeriah stand allein auf der Veranda des einstöckigen Hauses, das ›Big House‹ hieß und im Dorf Nine Miles lag. Es war ein schönes, wenn auch stetig mehr verfallendes Gebäude, vor fünfzig Jahren von der Matriarchin der Malcolm-Familie, Yaya (Katherine Malcolm), im Stil des Wohnsitzes eines englischen Pflanzers erbaut. Finanziert hatte sie es mit dem Gewinn aus dem Farmland, von dem sie reichlich besaß. Mit zwei großen Schlafzimmern (gewöhnlich für Untermieter reserviert), einem Esszimmer, einem Wohnzimmer, einer großen Küche und einem richtigen Salon sowie mehreren Hütten, die in der Nähe des Haupthauses errichtet worden waren, war es das beeindruckendste Anwesen, so weit man sehen konnte. Ganz allein nahe dem Gipfel über einer abgestuften Schlucht gelegen, die das natürliche Wahrzeichen von Nine Miles bildete, war Big House für alle, die in seiner Sichtweite lebten, immer von neuem Quelle des Stolzes.
Omeriah nahm seine schweißbefleckte Mütze ab und rieb sich die rauen Handflächen auf den Knien der schweren grauen Arbeitshosen, die aus Baumwolle waren und in Großbritannien hergestellt (allgemein als ›ol’ ironcloth‹ bezeichnet). Er nahm einen kleinen Schluck aus einer langhalsigen Flasche Appleton-Rum und sprenkelte dann genauso viel, wie er getrunken hatte, auf den Boden, im Gedenken an die wohlgesinnten und wachsamen Geister seiner Ahnen. In das bernsteinfarbene Glühen, das durch den Palmenwald auf den westlichen Bergen schimmerte, krähte ein Hahn, den Sonnenuntergang ankündigend. Malcolm neigte seinen Kopf in den Nacken, um einen großzügigeren Schluck Rum zu trinken, stellte dann die Flasche auf einer klapprigen Bank ab und setzte sich auf das hölzerne Geländer, das sich schon durchbog. Er sah hinaus über das Familienland und das Dorf Nine Miles.
Vor ihm erstreckte sich eine undurchdringliche und üppige Landschaft aus großen und kleinen Hügeln, spitz zulaufenden Bergen, immer wieder durchschnitten von Senken. Sie waren dicht bewachsen von Palmen, Bambus, Mangobäumen, Wasserbrot und Ackee, dazwischen Zedern, Mahoe und Mahagoni. An den Hängen kauerten sich die Hütten der Bevölkerung, aus Weidenzweigen geflochten und strohgedeckt oder, und das waren die massiveren unter ihnen, mit ›Spanish walling‹ gebaut (Mauerwerk in einem Holzrahmen) und gedeckt mit einem Flickwerk aus gewelltem Zinkblech. Sie waren ohne Fußbodenbelag und hatten nicht mehr als zwei winzige Räume –
eine Kammer, um Gerätschaften und Nahrungsmittel zu verstauen, und den anderen als Schlafraum. Jede Hütte besaß vor der Tür eine niedrige Feuerstelle und ein kleines Gehege für junges Vieh. Vor der Hütte erstreckte sich ein Stück steinharten Bodens, festgetrampelt von den Füßen der Cousins und Cousins von Cousins. Fettbäuchige Ziegen, grau mit schwarzen Bäuchen, kauten auf Unrat und Resten vom Tisch und waren umschwärmt von mückenähnlichem Tropenungeziefer, genannt ›sour flies‹. Sie waren angebunden im Labyrinth der rindenlosen Baumstämme in der Umgebung der Hütte.
Dies war der Lebensraum der Malcolms, Willoughbys, Lemoniouses, Lewises, Davises und eines Dutzends anderer, eng miteinander verwandter Familien, die in dieser Region schon seit zweihundert Jahren vor der Abschaffung der Sklaverei 1838 Ackerbau betrieben. Während der Zeit der großen Plantagen, die im frühen achtzehnten Jahrhundert begann, machte das Zuckerrohr, in einem breiten Gürtel von St. Ann’s Bay über Montego Bay bis Savanna-la-Mar angepflanzt, die im Ausland lebenden Grundbesitzer immens reich. Während das flache Land, das sich bis zum Meer erstreckte, für den Zuckerrohranbau genutzt wurde, durften die Pachtsklaven auf dem Land in den Bergen das anbauen, was sie zum Leben brauchten, und was von den Gutsbesitzern nicht beansprucht wurde, konnten sie in den Städten auf dem Markt tauschen oder verkaufen.
Die Malcolms zählten zu den wohlhabenden unter den Nachfahren jener Sklaven, und Omeriah war zum am meisten respektierten Bürger von Nine Miles geworden, dem Custos. (Custos war ursprünglich ein jamaikanischer Titel für Kolonialbeamte, aber im Laufe der Jahre hatte sich seine Bedeutung verändert und umfasste jetzt auch Landbesitzer und einheimische Persönlichkeiten, die wegen ihres außergewöhnlichen Reichtums, ihrer Klugheit oder ihres diplomatischen Geschicks hoch geschätzt wurden.)
Ein sehr kräftig gebauter Mann Mitte fünfzig mit einem runden Kopf, starkem, kantigem Kinn, einer breiten Nase und karamellfarbenen Augen, hatte Omeriah eine sanfte, ewig junge Art, die ihn besonders bei Kindern und Frauen beliebt machte. Außer den neun Kindern mit seiner Frau Alberta hatte er noch ein weiteres Dutzend mit verschiedenen Damen im Distrikt. Die meisten Verbindungen war er jedoch nach dem Tode seiner rechtmäßigen Frau im Jahre 1935 eingegangen, als auch seine Schwester Rittenella gestorben war. Dennoch, Alberta hatte die frühen Seitensprünge ihres Mannes hingenommen, ohne sich zu beklagen, ja, sie zeigte sogar einen Anflug von Stolz. Schließlich war ihr bewusst, dass er kein reiner Hallodri war, denn er hatte auf anständige und diskrete Weise dafür Sorge getragen, dass für alle seine unehelichen Nachfahren gesorgt war.
Ebenso ehrgeizig und fleißig wie liebesbedürftig, hatte Omeriah klug ein beträchtliches Stück allerbesten Ackerlandes in einem Bezirk namens Smith bestellt, einem fruchtbaren Tal zwischen Eight Miles und dem Dorf Rhoden Hall im Distrikt Stepney. Außerdem betrieb er eine Bäckerei, einen Gemischtwarenladen und ein lose geführtes Unternehmen, das nicht nur englische Stoffe für Kleider, Anzüge und Hosen verkaufte, sondern auch noch Dienstleistungen wie die Reparatur von Schuhen und allen erdenklichen Maschinen anbot. Zudem gehörte ihm eine bescheidene, aber gewinnbringende Kaffeerösterei. Seine Frau, ehemals Alberta Willoughby, war ebenfalls, an ländlichen Maßstäben gemessen, ziemlich wohlhabend, denn ihre Eltern konnten ein ziemlich ausgedehntes Gelände bewirtschaften, das dicht bepflanzt war mit Kaffee, Bananen, Orangen und Tangerinen.
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