An den Tagen vor der Krönung wurde eine Statue Meneliks II. vor der Kathedrale von St. Georg enthüllt, und am Vorabend der Feierlichkeiten fand ein Gottesdienst in der Kathedrale statt, der die ganze Nacht andauerte. Der Negus Ras Tafari und seine Gattin Woisero Menen beteten im Chor mit Priestern und Diakonen in kostbaren Gewändern, die tanzten, sangen, auf Trommeln schlugen und ihre Gebetsstöcke im Takt der Musik von Harfen, Leiern, Tambourinen, Becken und der einsaitigen ›masanko‹ bewegten. In bestimmten Zeitabständen hallte das weihrauchgeschwängerte Sanktuarium wider vom inbrünstigen Gesang eines Frauenchors und dem rhythmischen Klatschen, mit dem die Hymnen begleitet wurden. Draußen, auf den Stufen der Kathedrale, standen Adlige und Diplomaten mit brennenden Kerzen.
Sonntag, der 2. November 1930, dämmerte klar und milde, und schon um sieben Uhr in der Frühe hatten die meisten der siebenhundert offiziellen Gäste ihre Plätze in der üppig geschmückten Halle auf der westlichen Seite der Kathedrale eingenommen. Löwenmähnige Feudalhäuptlinge saßen Seite an Seite mit uniformierten ausländischen Würdenträgern. Kurz nach sieben Uhr dreißig öffneten sich die mächtigen Türen des Allerheiligsten, und Hunderte von singenden Priestern traten heraus, gefolgt von dem Negus, bekleidet mit einer weißseidenen Kommunionsrobe. Er trat unter einen Baldachin, der auf goldenen Pfosten ruhte und im Zentrum des Mittelschiffs stand. Dann setzte er sich auf seinen rotgoldenen Thron. Die amharische Liturgie wurde von Abuna Kyril zelebriert, dem Erzbischof der Orthodoxen Kirche von Äthiopien, ihm assistierte ein Repräsentant des koptischen Patriarchen von Alexandria.
Seine Majestät erhob sich, um Kirche und Staat seine Loyalität zu geloben und zu versprechen, das Wohl seiner Untertanen allen persönlichen Belangen voranzustellen. Bei den Erklärungen und Segnungen empfing er nacheinander die Zeichen seines kaiserlichen Amtes: die königlichen Insignien, die mit Gold verzierte scharlachrote Robe, den juwelengeschmückten Säbel, das Zepter und den Apfel, den Ring des Salomon, zwei diamantene Ringe und zwei goldene Lanzen. Der Abuna trat vor und salbte in einem Ritus, der zurückgeht auf die Weihe des David durch Samuel und des Salomon durch Nathan und Zadok, die Stirn des Tafari mit Öl und krönte ihn als Haile Selassie I., Macht der Heiligen Dreieinigkeit, zweihundertfünfundzwanzigster Kaiser der Dynastie Salomons, Auserwählter Gottes, Lord der Lords, König der Könige, siegreicher Löwe vom Stamme Juda. Und dann besiegelte der Abuna den Augenblick mit der Segnung: »Gott möge diese Krone zu einer Krone der Heiligkeit und der Herrlichkeit machen. Und mögest du durch die Gnade und die Segnungen, die wir erteilt haben, einen unerschütterlichen Glauben gewinnen und ein reines Herz, auf dass du die ewige Krone zum Erbe bekommst. Amen.«
Als Selassies ältester Sohn, der Kronprinz Asfa Wossen, vor dem Kaiser in einer Geste höchsten Respekts niederkniete, schossen einhundertundeine Kanone vor der Kathedrale donnernd Salut. Tagelang dauerten die Festlichkeiten in Addis Abeba und im gesamten Kaiserreich, auch bei den Bauern und Kleinstädtern, die von den Krönungsfeiern ausgeschlossen worden waren und sich nicht in den Stadtteilen rings um die Kathedrale hatten aufhalten dürfen. Korrespondenten der internationalen Presse berichteten überschwänglich von den Ereignissen.
In Afrika pries man Selassie als den größten der modernen Monarchen und als Symbol der gigantischen Möglichkeiten des Kontinents. In den USA strömten die Bewohner von Harlem in die Kinos, um die Wochenschauberichterstattung über die Krönung mitzuerleben. In der Karibik war wie an anderen Orten im Westen der Beginn von Selassies Herrschaft für alle unterdrückten farbigen Völker der leuchtende Beweis dafür, dass, wie die Garveyites, die Zurück-nach-Afrika forderten, und die Fanatiker des synkretistischen Rasta-Kults vorhergesagt hatten, der Tag der Erlösung bevorstand.
Für die Garveyites war Haile Selassie ein Held ohnegleichen. Für die Rastas war er der lebendige Gott Abrahams und Isaaks, Er, dessen Name nicht ausgesprochen werden darf.
Bald nachdem Selassie den Thron bestiegen hatte, begann er, demokratische Institutionen einzuführen und ganz allgemein Äthiopien aus seiner feudalen Vergangenheit zu führen. Die neue Verfassung von 1931 machte die 26 Millionen Einwohner Äthiopiens, die zuvor nur Sklaven des Adels gewesen waren, zu Bürgern des Kaiserreichs.
Um die arme Landbevölkerung, die fast nur aus Analphabeten bestand, langsam in das zwanzigste Jahrhundert zu überführen, wurde ein System von Grund- und weiterführenden Schulen eingerichtet. Das antiquierte System der Landverteilung wurde reformiert, und die Sklaverei wurde abgeschafft. Man brachte den Verwaltungsdienst auf einen neueren Stand, baute mehr Straßen und initiierte andere Projekte der öffentlichen Hand, die Arbeit brachten. Aber der Fortschritt ging nur langsam vonstatten in einem Land von 455.000 Quadratmeilen Größe, dessen Stammesbevölkerung sich in mehr als zweitausend verschiedenen Sprachen und Dialekten verständigte.
Der Schatten des Faschismus, der sich in den dreißiger Jahren über Europa ausbreitete, fiel 1934 plötzlich auch auf Äthiopien, als Benito Mussolini versuchte, Italiens Kolonialinteressen in Afrika über Eritrea und Italienisch-Somaliland hinaus auszudehnen. Selassie versuchte beim Völkerbund Unterstützung zu erlangen, aber wurde nicht erhört. Im Oktober 1935 wurde Äthiopien besetzt, kurz darauf fiel Addis Abeba, und 1936 ging Selassie ins Exil, zuerst nach Jerusalem, um zu beten, und dann nach England. Im Juni des Jahres sprach er vor dem Völkerbund in Genf, und in einer außergewöhnlich würdevollen und leidenschaftlichen Rede, in der er die Selbstbestimmung forderte, beschämte er die Delegierten wegen ihrer Feigheit. »Gott und die Geschichte werden sich Ihrer Entscheidung erinnern«, sagte er. »Heute sind wir es. Morgen werden Sie betroffen sein.«
Im Mai 1940 rettete Winston Churchill ihn aus seinen Schwierigkeiten, als Italien als Feind Großbritanniens offiziell in den Zweiten Weltkrieg eintrat. Von den Briten nach Khartum eingeschmuggelt, organisierte Selassie in den Wüsten des Sudan eine Armee. Am 5. Mai 1941 kehrte der Kaiser auf den Tag genau fünf Jahre nach der italienischen Invasion im Triumph nach Addis Abeba zurück. Sein Werk der Reform und Modernisierung weiter vorantreibend, ließ er zweihundert neue Schulen bauen und machte sich daran, die stagnierende Wirtschaft wiederzubeleben, indem er zum Beispiel einen lebenswichtigen Hafen an der Küste des Roten Meeres ausbauen ließ.
1955 erließ er eine neue Verfassung, die allen seinen Untertanen das allgemeine Wahlrecht und Gleichheit vor dem Gesetz zusprach, aber das Dokument enthielt einen entscheidenden Vorbehalt: »Kraft seines Kaiserlichen Blutes sowie der Salbung, die Er empfangen hat, ist die Person des Kaisers heilig. Seine Würde ist unverletzlich und seine Macht unbestreitbar.«
Fünf Jahre später, als sich Selassie auf einem Staatsbesuch in Brasilien befand, gab es eine Palastrevolution, die von seinem Sohn, Kronprinz Asfa Wossen, unterstützt wurde. Der Kaiser kehrte zurück, um den Umsturzversuch niederzuschlagen, und ließ den Anführer, den Kommandanten der Kaiserlichen Leibwache, hängen. Der Prinz blieb verschont, und das war eine Geste der Milde, die an die gnädige Behandlung der geschlagenen italienischen Truppen durch den Kaiser im Jahre 1942 erinnerte. Aber Selassie spürte, dass ein neuer politischer Wind über seinem Reich aufgekommen war.
Erklärtes Ziel des Umsturzversuches war gewesen, ein neues Regime einzusetzen, das einen rascheren gesellschaftlichen und ökonomischen Fortschritt gewährleisten sollte. Selassie begann, von Zeit zu Zeit in Rundfunkansprachen seine Landsleute über die neuesten Programme und politischen Entscheidungen zu informieren. Aber viele waren der Meinung, er tue zu wenig und es sei überdies zu spät. Eine winzige Fraktion der intellektuellen Elite Äthiopiens machte sich in den frühen siebziger Jahren bemerkbar, als das sogenannte Horn von Afrika zu einer der strategisch wichtigsten und politisch unsichersten Regionen der Welt wurde. Die USA schickten Militärhilfe, um die äthiopische Armee zu stärken, und die Sowjetunion bewaffnete den ewigen Feind Somalia und unterstützte den revolutionären Befreiungskampf in der Region Eritrea.
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