Unterdessen verbreitete sich in der Bevölkerung Unzufriedenheit, denn man war zornig über den extrem niedrigen Lebensstandard und die in höchste Höhen steigenden Preise. Als 1973 eine Dürre in zwei nördlichen Provinzen zum Hungertod von ungefähr 100.000 Menschen führte, erreichten Unzufriedenheit und Wut über die Unfähigkeit der Regierung ihren Höhepunkt. Die Armee, die zum größten Teil aus Bauern bestand, verlangte eine Erhöhung des Solds und war voller Ingrimm über ihren Kaiser, der inmitten schrecklicher Armut im Überfluss lebte und angeblich Milliarden Dollar auf Schweizer Bankkonten in Sicherheit gebracht hatte (obwohl derartige Behauptungen nie bewiesen worden sind).
Die abtrünnigen Streitkräfte organisierten sich, und am Donnerstag, dem 12. September 1974, erhoben sie sich bei Kälte und Regen gegen ihren Kaiser. Vorangegangen war eine volle Woche schlechten und regnerischen Wetters, für den Kaiser nur unterbrochen durch Fernsehnachrichten über die Verhaftung seiner Minister und Freunde. Einige wenige Verwandte entkamen dem Fangnetz der Revolutionäre, und Kronprinz Asfa Wossen erholte sich in einem Schweizer Krankenhaus von einem Schlaganfall, aber die meisten Angehörigen des Hauses Makkonen und der innere Kreis seiner Familie kamen ins Gefängnis oder wurden exekutiert.
Zum angekündigten Zeitpunkt trat dem Kaiser eine Abordnung seiner Truppen im Vestibül seines Büros im Palast entgegen. Er stand vor einer dekorativen Landkarte Äthiopiens in untadeliger Uniform. Man fuhr ihn in eine Kaserne, und auf dem Weg wurde er von der Menge als Dieb beschimpft. Man warf ihn in eine kleine, schmutzige Zelle und ließ ihn dort zurück, gehüllt in seinen wollenen Umhang, mit einem Blechnapf kalter Verpflegung, und die Kakerlaken machten sich zu seinen Füßen darüber her. Er kniete nieder und betete.
Monate später brachte man den zweiundachtzigjährigen Haile Selassie I. in den Palast zurück, wo er in einer kleinen Wohnung den Tod erwarten durfte.
Am Morgen des 27. August 1975 schlug die Uhr sieben, als ein Diener weinend am Bett des Löwen von Juda stand – so die Meldung der Regierung. In London gab Kronprinz Asfa Wossen eine schriftliche Erklärung ab, in der gefordert wurde, dass »unabhängige Ärzte und das Internationale Rote Kreuz die Erlaubnis erhalten sollten, eine Autopsie durchzuführen, um die Todesursache des Vaters von Äthiopien und Afrika festzustellen«.
In der Kathedrale von St. Georg wurde kein ›tezkar‹, Gedenkgottesdienst, abgehalten, und auch nirgendwo sonst im Lande.
In den darauffolgenden Jahren wurde die Grabstätte von Haile Selassie I. nicht gefunden, obgleich viele danach gesucht haben. Und niemand fand den heiligen Ring des Salomon.
In der Karibik, auf der Insel Jamaika, hatten die Brüder des Rastafari-Kults ein seltsames und freies Lächeln auf den Lippen.
»You nuh cyan bury Jah«, sagten die Rastas. »Jah kann man nicht begraben.»
Die Titelseite des Daily Gleaner vom Dienstag, dem 6. Februar 1945, war beherrscht von Kriegsnachrichten. Die Rote Armee unter Marschall Schukow stand fünfzig Kilometer vor der Reichshauptstadt, und Pattons Panzer hatten den Westwall durchstoßen, während auf der anderen Seite des Planeten Flugzeuge vom britischen Flugzeugträger ›Indefatigable‹ japanische Stellungen auf Sumatra bombardierten und General Douglas McArthurs Truppen nach Manila zurückgekehrt waren.
ln den Lokalnachrichten fanden sich erneut Berichte über einen Rückgang der Gewinne aus der jamaikanischen Zitrusernte (zugeschrieben den Gefahren, denen die Frachtschiffe auf dem Weg nach Großbritannien ausgesetzt waren) sowie über den Mangel an Rindfleisch, Benzin und Streichhölzern. Farmarbeiter waren gerade über eine Luftbrücke von Montego Bay nach Florida gebracht worden, um dort bei der Ernte zu helfen. Am Tag zuvor hatte der Bischof von Kingston die jährliche anglikanische Synode mit einem Cricketspiel zwischen der Geistlichkeit und der Polizei eröffnet. Am Spätnachmittag war Lady Huggins im nahegelegenen Jamaica Turf Club geehrt worden, und Mrs. McWhinnie hatte eine Teegesellschaft veranstaltet.
Ein Ereignis jedoch, das in den frühen Morgenstunden im ländlichen Pfarrbezirk von St. Ann stattgefunden hatte, war im Gleaner nicht erwähnt. Die neunzehnjährige Cedella Marley hatte ihr erstes Kind geboren. Die mondgesichtige Cedella – oder Ciddy, wie sie genannt wurde – hatte eine schwierige Schwangerschaft hinter sich gebracht, und ihr war morgens oft übel gewesen. Als sie am Sonntagabend in die Wehen gekommen war, hatte man sie in das Haus ihres Vaters, Omeriah Malcolm, gebracht, eines Schwarzen. Den gesamten Montag hatte sie in den Wehen gelegen, und am Dienstag um zwei Uhr dreißig in der Frühe war sie von Robert Nesta entbunden worden, einem rehfarbenen Jungen mit dünnen Lippen und der schlanken, spitzen Nase seines Vaters, Captain Norval Sinclair Marley, eines Weißen.
Kurz nach Sonnenaufgang war die Nachgeburt sorgfältig in eine Seite des Gleaner eingewickelt worden, auf der die Geschichte von der Verhaftung eines jungen Rowdys zu lesen stand, der am Tag zuvor in Kingston einem Chinesen 35 Pfund gestohlen hatte. Der Beiname des Räubers war ›Pearl Harbor‹.
Die Nachgeburt wurde am Fuße eines jungen Mangoschösslings begraben, der von dem Tag an der ›Freund-Baum‹ von Robert Nesta Marley sein würde. Er würde so groß und so stark werden, wie der Junge es sich wünschte. Seine Gesundheit und seine Größe würden bezeugen, wie er sich um ihn gekümmert hatte, und er würde sich im Laufe der Zeit in dieselbe Richtung beugen wie der, der ihn gepflegt hatte.
Ciddy gab man Minztee zu trinken und Pfeilwurz, während Omeriah das Kind auf eine rostige Gemüsewaage von seinem Verkaufsstand am Straßenrand legte: Robert wog genau sechseinhalb Pfund. Gewickelt in ein blau-weißes Hemd, von Ciddy aus dem Musselinstoff genäht, den Omeriah bei einem Großhändler in Kingston bestellt hatte, wurde er dann in eine Wiege neben dem Bett seiner Mutter gelegt, die ausgepolstert war mit einem Krokusbeutel.
Während Ciddy und das Kind unter Omeriahs Dach fest schliefen, spielte draußen eine Gruppe kleiner ›kidren‹, und sie sangen einen ›ring song‹ (ein traditionelles Lied, das bei Kreisspielen gesungen wurde), der in den Hügeln widerhallte:
Dere’s a black boy in de ring, tra la la la la
Dere’s a black boy in de ring, tra la la la la
Him like sugar, I like plum, tra la la la la
Him cyan’t be my lover nuh, tra la la la la …
Ist ein schwarzer Junge in dem Kreis, tra la …
Er mag Zucker, ich mag Pflaumen, tra la …
Er wird nicht mein Liebster nein, tra la …
»Der Teufel, der will den kleinen Jungen.« Omeriah Malcolm zitterte, als er sich selbst diese gräuliche Vermutung flüstern hörte, und er war nicht überrascht über die Furcht und die Schwäche in seiner Stimme. »Jemand hat ihn verhext«, murmelte er bei sich, »put duppy on ’im bwai.«. (»Hat einen Duppy auf diesen Jungen losgelassen.«)
Sein vier Monate alter Enkel war krank geworden, und Omeriah war überzeugt, dass böse Kräfte dafür verantwortlich waren. Ciddy hatte sich um ihren Sohn gekümmert, wie es normal ist, hatte ihn gestillt und ihn dann auf ein Gummilaken in ihrer Hütte auf dem Hügel gelegt, die nur aus einem Zimmer bestand. Dann hatte sie für die Familie genäht – die Kleidung ihrer fünf Brüder und drei Schwestern geflickt. Im Gefühl, dass alles in Ordnung sei, hatte sie das Kind um die Mittagszeit noch einmal genau betrachtet und war dann den Hügel hinuntergeeilt, um sich unten im Laden etwas Süßes zu kaufen, denn sie war ein wenig hungrig. Als sie knapp zehn Minuten später zurückkam, fand sie ihn wimmernd auf dem Bauch liegend, und aus seiner Nase tropfte es. Er gab kurze Hustentöne von sich.
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